Beschleunigungsgebot

  • Die Strafkammer erließ gegen den Angeklagten einen Untersuchungshaftbefehl. In der Folgezeit fanden die Hauptverhandlungstermine statt.

    Dazu führte das OLG aus:

    „Denn jedenfalls ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass die Strafkammer in der Zeit vom 17. Juli 2009 bis zum 19. Dezember 2011 – mithin in einem Zeitraum von mehr als 29 Monaten – nur an insgesamt 65 Tagen einen Hauptverhandlungstermin durchgeführt hat und damit durchschnittlich lediglich 2,2 Hauptverhandlungstermine pro Monat stattgefunden haben, wobei die durchschnittliche Länge der Termine jeweils nur wenige Stunden betrug und zahlreiche Termine sogar nur weniger als eine Stunde dauerten. Dabei übersieht der Senat nicht, dass sich das Verfahren ursprünglich gegen neun Angeklagte richtete. Auch verkennt er nicht, dass an verschiedenen Terminen offenbar einer oder mehrere der Verteidiger verhindert waren und einer der Angeklagten erkrankt war. Andererseits war zu berücksichtigen, dass die Strafkammer die Hinweise des Senats in seinen Beschlüssen vom 13. April 2010 und vom 6. Juni 2011 nicht zum Anlass genommen hat, das Verfahren zügiger voranzutreiben.“

    Das OLG betont in dem Beschluss das Versäumnis der Strafkammer, das Verfahren in ausreichendem Maße zu fördern – dies gebiete das Beschleunigungsgebot.

    Um diesem Gebot gerecht zu werden, seien durchschnittlich 2,2 Termine pro Monat zu wenig, insbesondere da die jeweiligen Termine kurz gewesen seinen. Damit hat das OLG einen gravierenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot bejaht. Aus diesem Grund wurde der Haftbefehl aufgehoben.

    OLG Hamm, Beschluss vom 27.12.2011, Az.: III 3 Ws 424/11

  • OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.04.2011, Az.: 2 HEs 37 – 39/11, 2 HEs 37/11, 2 HEs 38/11, 2 HEs 39/11

    Die Angeschuldigten K. und D. befinden sich seit dem 8. Oktober 2010 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Ulm und später aufgrund des neu gefassten und ergänzten Haftbefehls des Landgerichts Ulm. Dieser Haftbefehl richtet sich außerdem gegen den Angeschuldigten St., der sich zuvor aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Ulm vom 9. Oktober 2010 seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft befand.
    Den Angeschuldigten wurden unter anderem schwerer Bandendiebstahl, besonders schwerer Diebstahl und versuchter Mord vorgeworfen.
    Das Amtsgericht sowie das Landgericht geben als Haftgrund Wiederholungsgefahr an.
    Das OLG bestätigt in seinem Beschluss zunächst, dass die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft gemäß § 112 StPO vorliegen.

    Aus dem Beschluss des OLG:

    „Der Haftbefehl ist dennoch aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO gerechtfertigt ist.
    Der besondere Umfang der Ermittlungen hat bisher ein Urteil nicht zugelassen. Vorliegend waren Serienstraftaten aufzuklären, an denen mutmaßlich mehrere Beschuldigte in wechselnder Besetzung beteiligt waren. Dazu musste die überwachte Telekommunikation und eine Vielzahl von Verkaufsbelegen ausgewertet sowie Diebesgut von insgesamt rund zehn Tonnen Gewicht gesichtet werden.
    Das Verfahren ist bislang auch mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.“
    „Ein Haftbefehl ist indes nicht nur dann unverzüglich aufzuheben, wenn Verfahrensverzögerungen bereits eingetreten sind, sondern auch dann, wenn hinreichend deutlich absehbar ist, dass erhebliche Verfahrensverzögerungen bevorstehen (BVerfG, Beschluss vom 19.09.2007, 2 BvR 1850/07, juris Rn. 5 m.w.N.). So liegt der Fall hier.
    Der Kammervorsitzende legt in seinem Vorlagebericht vom 4. April 2011 dar, dass eine Hauptverhandlung in vorliegender Sache „realistisch frühestens im September 2011 möglich“ – und damit im günstigsten Fall erst rund sieben Monate nach Anklageerhebung zu erwarten ist. Bis dahin befinden sich die Angeschuldigten mindestens elf Monate in Untersuchungshaft. Damit verzögert sich das Verfahren gegenüber dem üblichen Geschäftsgang um mindestens drei Monate, weshalb die Hauptverhandlung auch zum Zeitpunkt der Haftprüfung nach neun Monaten Untersuchungshaft noch nicht begonnen haben wird. Bei einer so langen Haft gilt für die Rechtfertigung der Haftfortdauer schon allgemein ein besonders strenger Maßstab. Hier kommt hinzu, dass die Haft auf Wiederholungsgefahr gestützt ist und in solchen Fällen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zukommt, wie schon daraus hervorgeht, dass § 122a StPO den Vollzug der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr auf höchstens ein Jahr begrenzt. Nach diesem Maßstab ist die Verfahrensverzögerung nicht gerechtfertigt.“
    „Die Überlastung des Gerichts infolge einer Häufung anhängiger Sachen die schon länger dauert, rechtfertigt die Verzögerung nicht. Ein Beschuldigter darf nicht deshalb länger in Haft gehalten werden, weil dem Gericht die personellen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich sind (BVerfG a.a.O. Rn. 6). Eine Überlastung kann eine Verfahrensverzögerung allenfalls dann rechtfertigen, wenn sie kurzfristig ist und weder voraussehbar noch vermeidbar war (vgl. Schultheis in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 121 Rn. 18 m. w. N.).“

    Damit betont das OLG, dass die Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gemäß § 121 I StPO nur in Ausnahmefällen aufrecht erhalten werden darf. Das OLG stellt klar, dass dabei nicht nur die bereits verstrichene Zeit beachtet werden muss, sondern auch die noch zu erwartende Zeit bis zum Urteil; dies gebiete das Beschleunigungsgebot. Nach Auffassung des OLG standen im vorliegen Fall deutliche Verzögerungen bevor, die dem Gericht auch bekannt waren. Daher sei die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt. Daher hat das OLG den Haftbefehl ausgehoben. Die Angeschuldigten waren zu entlassen.


  • Das Amtsgericht Dresden hat einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, in welchem ihm elf Fälle des gemeinschaftlichen gewerbsmäßigen Diebstahls und drei Fälle des gemeinschaftlichen Wohnungseinbruchsdiebstahls zur Last gelegt werden. Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 20. September 2010 in Untersuchungshaft.

    Gegen den Haftbefehl wendete sich der Angeklagte mit der Beschwerde. Diese wurde mit Beschluss des Landgerichts Dresden vom 09. Mai 2011 als unbegründet verworfen. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte am 11. Mai 2011 weitere Beschwerde erhoben und selbige mit Schriftsatz seines Strafverteidigers vom 17. Mai 2011 und 19. Mai 2011 näher begründet. Er verneint das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und rügt die Verletzung des Beschleunigungsgebotes.

  • BVerfG, Kammerbeschluss vom 04.05.2011, Az.: 2 BvR 2781/10

    Der Beschwerdeführer befand sich über ein Jahr – 14. Januar 2010 bis 7. Februar 2011 – in  Untersuchungshaft. Ihm wurde vorgeworfen,  gemeinschaftlich handelnd Umsatzsteuer in Höhe von gut einer  Million Euro hinterzogen zu haben.

    Nachdem er ca. ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage.  Im Rahmen der ersten Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO ordnete das Oberlandesgericht München mit Beschluss vom 30. Juli 2010 die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

    Auch bei der zweiten besonderen Haftprüfung ergab sich nichts anderes: mit Beschluss vom 16. November 2010 wurde die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens sei noch nicht entschieden, ein Termin zur Hauptverhandlung habe noch nicht bestimmt werden können. Dabei berief sich die  Kammer auf die (zwischenzeitliche) Überlastung. Allerdings warne zu diesem Zeitpunkt keine  Einwendungen gegen die Hauptverfahrenseröffnung erhoben oder Beweisanträge gestellt worden.

    Nach Ergehen der zweiten Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgenden Beschleunigungsgrundsatzes.

    Dazu das BVerfG:

    „Der im Recht auf Freiheit der Person verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zugrunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines  Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wie sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte ergibt, handelt es sich dabei um eng begrenzte Ausnahmetatbestände (vgl. BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 20, 144 <148 f.>; 36, 264 <270 ff.>; 53, 152 <158 ff.>; BVerfGK 7, 421 <427 f.>; 9, 339 <347 f.>; 10, 294 <301 ff.>; zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 -, EuGRZ 2010, S. 674 <676>).

    Damit steht die zweite Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts nicht in Einklang, denn obwohl die Sache bereits seit geraumer Zeit entscheidungsreif war, hat die Strafkammer die Eröffnung des Hauptverfahrens erst am 20. Dezember 2010 beschlossen und Termin zur Hauptverhandlung nicht vor dem 2. März 2011 anberaumt. Darin liegt eine vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende Verfahrensverzögerung, die der Fortdauer der Untersuchungshaft unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schon zum Zeitpunkt der zweiten Haftfortdauerentscheidung entgegenstand.“

    In seiner Entscheidung erläutert das BVerfG weiter, dass der Beschleunigungsgrundsatz auch im Zwischenverfahren schon Beachtung finden muss. Dies gilt hier insbesondere deshalb, weil sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Anklageerhebung schon fast ein halbes Jahr in Untersuchungshaft befand.

    Die von der Kammer angeführte (zwischenzeitliche) Überlastung kann keinen zureichenden Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft darstellen. Allein das Ausschöpfen der zur Verfügung stehenden Mittel ist unter Umständen auch nicht ausreichend. Das BVerfG hat das OLG darauf hingewiesen, dass das Gericht vielmehr geeignete Maßnahme zu treffen hat, um Versäumnisse zu vermeiden. Das der Beschuldigte personelle Engpässe nicht zu vertreten hat, steht dies der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegen.

    Die zweite Haftfortdauerentscheidung des OLG verletzt nach Ansicht des BVerfG folglich den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.


  • Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (U-Haft) ist eine Grundmaxime des Strafprozessrechts. Damit ist gemeint, dass ein Verfahren so schnell wie möglich durchzuführen ist, um die erheblichen Beeinträchtigungen für den Angeklagten so gering wie möglich zu halten. Festgelegt ist dies insbesondere in Art. 6 I 1 der EMRK.

    Im vorliegenden Fall sollte eine Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO erfolgen. Allerdings hat sich das Gericht dazu entschieden, eine Erörterung des Verfahrensstandes nach § 202a S. 1 StPO durchzuführen. Dabei kam die Frage auf, ob dies im Fall der Haftprüfung dem Beschleunigungsgrundsatz widerspricht und den Angeklagten durch die zusätzliche Zeit übermäßig belastet.

  • 1. Strafsenat des OLG Oldenburg, Az.: 1 Ws 128/11

    Die Staatsanwaltschaft Oldenburg klagte den Angeschuldigten am AG Jever an,  er habe in der Zeit vom 5. April 2008 bis zum 26. Januar 2010 durch 71 Straftaten, davon in 45 Fällen gemeinschaftlich mit der Mitangeschuldigten G und S handelnd

    1. gewerbsmäßige Betrugshandlungen begangen, wobei es in fünfzehn Fällen beim Versuch blieb
    2. Untreue
    3. gewerbsmäßige Betrugshandlungen in Tateinheit mit Missbrauch von Scheck und Kreditkarten begangen.

    Das AG Oldenburg erließ aufgrund dieser Vorwürfe auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO einen Untersuchungshaftbefehl wegen Wiederholungsgefahr. Seit dem 27. September 2010 befindet sich der Angeschuldigte in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 9. Dezember 2010 hielt das AG Jever den Haftbefehl im Haftprüfungsverfahren aufrecht.

    Der Angeschuldigte legte dagegen Haftbeschwerde ein. Das AG Oldenburg half dieser jedoch  nicht ab. Nach Eingang der Akten beim Landgericht Oldenburg am 24. Februar 2011 hat dieses die Haftbeschwerde als Antrag auf Haftprüfung behandelt und den Haftbefehl aufrechterhalten.

    Hiergegen und gegen den Haftbefehl wendet sich der Angeschuldigte mit der Beschwerde. Das Landgericht half dieser ebenfalls nicht ab und legte diese mit den Akten zur Entscheidung dem OLG Oldenburg vor.

    Vor dem 1. Strafsenat des OLG Oldenburg war die weitere Beschwerde schließlich erfolgreich. Das Gericht hielt die Beschwerde des Angeschuldigten für zulässig und begründet. Der Ablauf des Verfahrens sei mit dem in Haftsachen nach Art. 2 Abs. 2 GG zu beachtenden Beschleunigungsgrundsatz unvereinbar und daher sei eine weitere Untersuchungshaft auf seiner Grundlage nicht verhältnismäßig.

    Aus dem Wortlaut des Beschluss:

    „Das Verfahren ist nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
    Der Haftbefehl vom 22.09.2010 beinhaltet Vorwürfe von Straftaten, die zwischen dem 5. April 2008 und 26. Januar 2010 begangen wurden. Die Anklage vom 27.09.2010, die Anfang Oktober beim AG Jever einging, wurde erst gemäß Verfügung vom 08.11.2010 dem Verteidiger des Angeschuldigten zugestellt. Über eine Zulassung der Anklage ist bis heute, nicht entschieden worden.
    Zwar ist dies hauptsächlich auf den Kompetenzkonflikt zwischen dem AG Jever und dem LG Oldenburg zurückzuführen, der erst am 24.02.2011 durch die Übernahme des Verfahrens durch das LG Oldenburg endete. Das rechtfertigt aber nicht die damit einhergehende Verzögerung in dieser Haftsache.
    Die infolge dieser ungewöhnlichen und langwierigen Verfahrensweise eingetretene erhebliche Verzögerung des Verfahrens widerspricht dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen und darf sich nicht zu Lasten des Angeschuldigten auswirken. Gerichtliche Bemühungen um eine Verfahrensverbindung sind gegenüber dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nachrangig. Der in Untersuchungshaft gehaltene Angeschuldigte hat ein Recht darauf, dass die Haftsache mit größtmöglicher Beschleunigung betrieben wird. Somit müssen die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Dies verlangt der verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgrundsatz (BVerfGE 20, 45. 36, 264). An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert (BVerfG StV 2006, 81). Kommt es zu vermeidbaren erheblichen und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen, wobei es auf eine wie auch immer geartete Vorwerfbarkeit nicht ankommt, liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vor (BVerfG NJW 2006, 1336. OLG Nürnberg StV 2011, 39).“

    Aufgrund der erfolgreichen weiteren Beschwerde hob das OLG Oldenburg den Haftbefehl und die Haftfortdauerentscheidung des LG Oldenburg auf und veranlasste die unverzüglich Freilassung des Angeschuldigten aus der U-Haft.


  • 1. Strafsenat des OLG Nürnberg, Az.: 1 Ws 462/10

    Gegen den Beschuldigten wurde ein Haftbefehl wegen dringenden Tatverdachts und dem Haftgrund der Fluchtgefahr erlassen. Der Beschuldigte wurde in U-Haft verbracht und nach sechs Monaten die Haftfortdauer angeordnet.
    Die 1. Strafkammer hatte die Durchführung der Hauptverhandlung erst für einen Termin fünf Monate nach Abschluss der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vorgesehen.

    Nach Ansicht des 1. Strafsenats des OLG Nürnberg sind die Voraussetzungen für die Anordnung der Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinaus, gem. § 121 Abs. 1 StPO, nicht gegeben. Das Verfahren habe nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren.

    Aus dem Wortlaut des Beschlusses:

    „Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der U-Haft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegengehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der U-Haft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421).
    Dem trägt die Vorschrift des § l21 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der U-Haft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinweg zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50: 36, 264, 271). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der U-Haft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 [= StV 2006,148]).“

    Die Beschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg. Der 1. Strafsenat hob den Haftbefehl auf.


  • 3. Strafsenat des BGH, Az. 3 StR 507/09

    Der Angeklagte war vom Landgericht wegen Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft in acht Fällen und wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in insgesamt 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurde ihm das Verbot auferlegt, für die Dauer von drei Jahren „eine selbständige, leitende oder angestellte Tätigkeit von Organisation und Durchführung sowie Vermittlung von Veranstaltungen folkloristischer, kultureller und künstlerischer Art“ auszuüben.

    Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) im Hinblick auf die Besetzungsrüge mit Erfolg. In seiner Revision beanstandet der Beschwerdeführer unter anderem die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO.

    Im vorliegenden Sachverhalt hatte das Präsidium des Landgerichts mit Beschluss vom 10. Oktober 2007 über die Strafkammer für die Zuständigkeit und Entscheidung des vorliegenden Falls entschieden und die eingegangene Sache von der Strafkammer 3 nachträglich der Hilfskammer 3 c zugewiesen. In seinem Beschluss zu der Änderung der Geschäftsverteilung fehlt es jedoch an einer ausreichenden Begründung für die Übertragung bereits anhängiger Verfahren.

    Der Generalbundesanwalt führt hierzu unter anderem aus:

    “§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG erlaubt dem Präsidium die Änderung der Geschäftsverteilung während eines laufenden Geschäftsjahres, wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers erforderlich wird. Zu diesem Zweck kann auch eine Hilfsstrafkammer eingerichtet werden, der Verfahren nach allgemeinen sachlich-objektiven Kriterien zugewiesen werden. Die Zuweisung bereits anhängiger Verfahren ist grundsätzlich nur möglich, wenn die Neuregelung generell gilt, also auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger gleichartiger Fälle erfasst (vgl. BVerfG NJW 2003, 345; 2005, 2689 f. m.w.N.). Nur in Ausnahmefällen, wenn allein so dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen werden kann, ist eine beschränkte Zuweisung allein bereits eingegangener Verfahren zulässig (vgl. BVerfG NJW 2009, 1734 f.). In Anbetracht des Ausnahmecharakters solcher Fälle und des Gewichts des Grundsatzes des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist dann eine detaillierte Dokumentation der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, nötig (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08 – Rdnr. 17; Beschluss vom 4. August 2009 – 3 StR 174/09 – Rdnr. 18). Mängel in der Begründung des Beschlusses kann das Präsidium bis zur Entscheidung über einen nach § 222b StPO erhobenen Besetzungseinwand durch einen ergänzenden, die Gründe für die Umverteilung dokumentierenden Beschluss ausräumen (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08 – Rdnr. 20; Beschluss vom 4. August 2009 – 3 StR 174/09 – Rdnr. 22).[..]“

    Allerdings war das Präsidium des Landgerichts diesen Anforderungen nicht nachgekommen, indem es sich in seiner Begründung für die Änderung der Geschäftsordnung lediglich darauf beschränkt, die 3. Strafkammer als „überlastet“ zu bezeichnen. Auch eine nachträgliche Heilung durch die dienstliche Äußerung des Präsidenten des LG ist nicht eingetreten. Insbesondere lässt auch die „verstärkte Terminierung“ durch zusätzlich anberaumte Verhandlungstage, die auf einem Beschleunigungsgebot beruhen, keinen Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren erkennen, so dass auch die Bezeichnung der Strafkammer 3 als „überlastet“ nach Auffassung des BGH nicht zu erklären ist. Aufgrund dieser fehlenden Begründung des Beschlusses vom 10. Oktober 2009 des Präsidiums hat die Revision des Angeklagten Erfolg.

    Zum Tatbestandsmerkmal  des „dazu Bringens“ i.S.d. § 233 Abs. 1 StGB

    Des Weiteren macht der BGH deutlich, dass auch die bisherigen Feststellungen im vorangegangenen Urteil zu keiner Verurteilung wegen Menschenhandelns zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 233 Abs. 1 S. 1 StGB führen würden.

    Fraglich ist, ob im vorliegenden Fall ein Menschenhandel gemäß § 233 Abs. 1 S. 1 StGB vorliegt. Denn dies ist nicht bereits dann zu bejahen, wenn der Täter „eine sich in einer Zwangslage oder in einem Zustand der auslandsspezifischen Hilflosigkeit befindliche Person in ein als ausbeuterisch zu beurteilendes Beschäftigungsverhältnis übernimmt“. Erforderlich ist vielmehr, dass die betroffene Person unter Ausnutzung der Zwangslage oder der Hilflosigkeit zur Aufnahme oder Fortsetzung der Beschäftigung gebracht wird. Entscheidend ist das„dazu bringen“ als Tatbestandsmerkmal:

    „Allerdings verlangt der Begriff des „dazu Bringens“ im Sinne der §§ 232, 233 StGB, zu dessen Auslegung auch die §§ 180 b, 181 StGB in der bis 18. Februar 2005 geltenden Fassung herangezogen werden können (Schroeder NJW 2005, 1393, 1395), weder eine Einflussnahme von gesteigerter Intensität wie das „Einwirken“ (§ 180 b aF) noch eine Willensbeeinflussung im Wege der Kommunikation wie das „dazu Bestimmen“ (§ 181 aF; vgl. Renzikowski in MünchKomm-StGB § 180 b Rdn. 25; § 181 Rdn. 13). Ist das Merkmal des Ausnutzens erfüllt, genügt jede ursächliche Herbeiführung des Erfolges, gleichgültig auf welche Art und Weise, sei es auch nur durch das Schaffen einer günstigen Gelegenheit oder durch ein schlichtes Angebot (BGH NStZ-RR 2005, 234; Schroeder aaO; Eisele in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 233 Rdn. 12; § 232 Rdn. 18; Fischer, StGB 57. Aufl. § 232 Rdn. 12; Lackner/Kühl, StGB 26. Aufl. § 232 Rdn. 2; enger Renzikowski aaO § 233 Rdn. 18; § 232 Rdn. 24 f.).“

    Somit wird nach Ansicht des Senats für die Erfüllung des Tatbestandes des § 233 Abs. 1 StGB verlangt, den Willen des Opfers zu beeinflussen und dadurch den Erfolg in Gestalt der Aufnahme des Opfers in die ausbeuterische Beschäftigung herbeizuführen. Hierfür muss der Täter also den Entschluss, dieses Arbeitsverhältnis aufzunehmen und sich dieser Situation auszusetzen, beim Opfer hervorrufen. Hat das Opfer jedoch bereits eigenverantwortlich diese Entscheidung selbst und ohne Beeinflussung durch den Täter getroffen, fehlt es an dieser Voraussetzung des § 233 Abs. 1 S. 1 StGB.

    Dies lässt sich gerade nach Ansicht des BGH auf Grundlange der Feststellung des LG nicht genau beurteilen. Vielmehr sind die Geschädigten bewusst nach Deutschland gekommen und haben sich eine Arbeit gesucht, um nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland  eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Es könnte somit sein, dass sie bereits von vornherein entschlossen waren, eine derartige Arbeit des Angeklagten anzunehmen oder solche jedenfalls in Kauf zu nehmen.

    Das neue Gericht wird sich somit erneut mit diesen Feststellungen zu beschäftigen haben. Die Strafverteidigung in der Revision hat bereits aufgrund der Besetzungsrüge maximalen Erfolg.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht -
Strafverteidiger Dr. jur. Sascha Böttner

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