Maßregelvollzug

  • Das sächsische Gesetz zur zwanghaften Behandlung mit Psychopharmaka von Personen im Maßregelvollzug ist verfassungswidrig.

    Ein im Maßregelvollzug Untergebrachter hatte vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg. Der Senat erklärt das sächsische Landesrecht für nichtig, nachdem Personen im Maßregelvollzug gegen ihren Willen mit Psychopharmaka behandelt werden können.

  • BVerfG, Beschluss vom 12.10.2011, Az.: 2 BvR 633/11

    Der Beschwerdeführer ist seit dem Jahr 2005 im Maßregelvollzug untergebracht. Nach dem Strafurteil, das der Unterbringung zugrundeliegt, leidet er an einer multiplen Störung der Sexualpräferenz und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung. Im Juni 2009 kündigte die Maßregelvollzugsklinik dem Beschwerdeführer an, dass er mit einem Neuroleptikum behandelt werden und diese Behandlung erforderlichenfalls auch gegen seinen Willen – durch Injektion unter Fesselung – durchgeführt werden solle. Als Eingriffsermächtigung führte die Klinik § 8 II Satz 2 des baden-württembergischen Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker an.

    Hiergegen beantragte der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie die gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG.

    Nachdem die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Heidelberg zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig die Verabreichung untersagt hatte, wies sie mit angegriffenem Beschluss den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer erhob Rechtsbeschwerde (§ 116 StVollzG). Das Oberlandesgericht Karlsruhe verwarf mit angegriffenem Beschluss die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG lägen nicht vor.

    Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die angegriffenen Beschlüsse verletzten ihn in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen sei nicht zulässig.

    Dazu das Bundesverfassungsgericht:

    „Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit zulässig, begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

    Die medizinische Zwangsbehandlung eines Untergebrachten greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität des Grundrechtsträgersund damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht schützt (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 -, EuGRZ 2011, S. 321 <326>). Entsprechendes gilt für die angegriffenen Entscheidungen, die die Zwangsbehandlung des Beschwerdeführers als rechtmäßig bestätigen.“

    „§ 8 Absatz 2 Satz 2  vom 2. Dezember 1991 (Gesetzblatt für Baden-WürttembergSeite 794) ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.“

    Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht den § 8 II Satz 2 des baden-württembergischen Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker (Unterbringungsgesetz – UBG) wegen Verstoßes gegen Art. 2 II Satz 1 i.V.m. Art. 10 IV GG für nichtig erklärt. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht auch betont, dass eine Zwangsbehandlung dann gerechtfertigt sein kann, wenn das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst betroffen ist oder die Behandlung zur Erreichung des Ziels des Maßregelvollzuges erforderlich ist.


  • Quelle: BVerfG, Pressemitteilung Nr. 28/2011 vom 15. April 2011

    Der Maßregelvollzug bzw. die Unterbringung wegen medizinischer Zwangsbehandlungen beschäftigten die Gerichte seit vielen Jahren, insbesondere Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen und Verurteilten. Häufig ist eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BverfG) der einzige Rechtsschutz, der den Betroffenen noch bleibt. Eine solche war im vorliegenden Fall erfolgreich.

    Pressemitteilung:

    Der Beschwerdeführer befindet sich seit 1999 aufgrund einer Verurteilung wegen im Zustand der Schuldunfähigkeit begangener Gewalttaten im Maßregelvollzug. Die Maßregelvollzugsklinik kündigte ihm schriftlich die Behandlung „mit einem geeigneten Neuroleptikum, das eventuell auch gegen Ihren Willen intramuskulär gespritzt wird“, an. Den hiergegen gerichteten Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung wies das Landgericht mit der Maßgabe zurück, dass eine zwangsweise medikamentöse Therapie mittels atypischer Neuroleptika für einen Zeitraum von sechs Monaten zulässig sei. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht hatte keinen Erfolg.

    Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des rheinland-pfälzischen Maßregelvollzugsgesetzes (MVollzG Rh.-Pf.) sind operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen des Untergebrachten nur mit seiner Einwilligung zulässig, wenn sie mit einem wesentlichen gesundheitlichen Risiko oder einer Gefahr für das Leben des untergebrachten Patienten verbunden sind; sonstige operative Eingriffe, Behandlungen und Untersuchungen sind ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des untergebrachten Patienten oder bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Ferner bestimmt der im konkreten Fall als Rechtsgrundlage herangezogene § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. in seinem ersten Halbsatz, dass im Übrigen Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden können.

    Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar und nichtig ist. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts wurden aufgehoben, da sie mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage für die angekündigte Zwangsbehandlung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

    Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

    Die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen (Zwangsbehandlung) greift in besonders schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein.

    Dem Gesetzgeber ist es nicht prinzipiell verwehrt, solche Eingriffe zuzulassen. Dies gilt auch für eine Behandlung, die der Erreichung des Vollzugsziels dient, also darauf gerichtet ist, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen. Zur Rechtfertigung eines solchen Eingriffs kann das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst (Art. 2 Abs. 2 GG) geeignet sein, sofern der Untergebrachte zur Einsicht in die Schwere seiner Krankheit und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen oder zum Handeln gemäß solcher Einsicht krankheitsbedingt nicht fähig ist. Soweit unter dieser Voraussetzung ausnahmsweise eine Befugnis zur Zwangsbehandlung anzuerkennen ist, eröffnet dies keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseite gesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint. Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Sie dürfen nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Eine weniger eingreifende Behandlung muss aussichtslos erscheinen. Der Zwangsbehandlung muss, soweit der Betroffene gesprächsfähig ist, unabhängig von seiner Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit der ernsthafte, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks unternommene Versuch vorausgegangen sein, die auf Vertrauen gegründete Zustimmung des Untergebrachten zu erreichen.

    Der in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte ist zudem zur Wahrung seiner Grundrechte in besonders hohem Maße auf verfahrensrechtliche Sicherungen angewiesen. Jedenfalls bei planmäßigen Behandlungen ist eine hinreichend konkrete Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Rechtsschutz zu suchen. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit unabdingbar ist die Anordnung und Überwachung einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch einen Arzt. Zur Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes und der Verhältnismäßigkeit ist es geboten, gegen den Willen des Untergebrachten ergriffene Behandlungsmaßnahmen eingehend zu dokumentieren. Im Hinblick auf die besonderen situationsbedingten Grundrechtsgefährdungen, denen der Untergebrachte ausgesetzt ist, muss darüber hinaus sichergestellt werden, dass der Durchführung einer Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels eine Prüfung in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung vorausgeht. Die Ausgestaltung der Art und Weise, in der dies geschieht, ist Sache des Gesetzgebers.

    Die wesentlichen materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen des Eingriffs bedürfen gesetzlicher Regelung.

    Die Eingriffsermächtigung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MVollzG Rh.-Pf. genügt, auch in Verbindung mit weiteren Bestimmungen des rheinland-pfälzischen Maßregelvollzugsgesetzes, diesen Anforderungen nicht. Insbesondere fehlt es an der gesetzlichen Regelung des unabdingbaren Erfordernisses krankheitsbedingt fehlender Einsichtsfähigkeit. Auch eine Reihe weiterer für den Grundrechtsschutz wesentlicher Eingriffsvoraussetzungen ist nicht oder nur unzureichend geregelt.


Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht -
Strafverteidiger Dr. jur. Sascha Böttner

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