Verfahrensverzögerung

  • Das Landgericht Tübingen hat den Angeklagten wegen 567 Fällen der Untreue zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt, von denen es sechs Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen für vollstreckt erklärt hat.

    Dabei hat das Landgericht den Strafrahmen des § 266 Abs. 2 StGB i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB (Gewerbsmäßigkeit) zugrunde gelegt. Bei Untreuehandlungen, bei denen das Vermögen der KG durch eine Tat um mehr als 50.000 € geschädigt wurde, hat die Kammer zudem die zusätzliche Verwirklichung des Regelbeispiels gemäß §§ 266 Abs. 2, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB (Vermögensverlust großen Ausmaßes) bejaht.

    Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des Angeklagten.

  • Das Landgericht Hamburg hat die Angeklagten wegen Subventionsbetrugs verurteilt. Hinsichtlich beider Angeklagter hat das Landgericht wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung jeweils fünf Monate der Freiheitsstrafen für vollstreckt erklärt.

  • BGH, Beschluss des 2. Strafsenats vom 21.12.2010 – 2 StR 344/10 –

    Wiederaufnahmeverfahren: Nachdem der Angeklagte 1991 aus der Haft entlassen wurde lebte er bei der Familie W., wobei er den 13-jährigen Sohn sexuell missbrauchte. Dabei griff der Angeklagte das Glied des Jungen und führte daran Onanierbewegungen aus, nahm es in den Mund und manipulierte daran bis zum Samenerguss.

    Das Landgericht Aachen hatte den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in mehreren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, wovon ein Jahr und drei Monate als vollstreckt erklärt wurden. Grund dafür sollte eine rechtswidrige Verfahrensverzögerung sein. Außerdem wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

    Gegen diese Entscheidung wurde Revision eingelegt. Diese hat bezüglich des Straf- und Maßregelausspruchs Erfolg. Bei der Strafzumessung ist ein falscher Maßstab zugrunde gelegt worden.

    Ein Urteil des Landgerichts Augsburg aus dem Jahre 2001 hatte den Mann wegen Missbrauchstaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dieses erlangte 2002 Rechtskraft. Daraufhin sah die Staatsanwaltschaft nach § 154 I StPO von der Verfolgung der nunmehr abgeurteilten Tatvorwürfe ab. 2009 wurde – nach Vollstreckung der Strafe – das vorliegende Verfahren wiederaufgenommen.

    Dazu führte der BGH aus:

    „Nicht gegeben ist zwar das von der Revision geltend gemachte Verfahrenshindernis infolge der ursprünglich von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen Sachbehandlung nach § 154 Abs. 1 StPO. Denn diese kann jeder-zeit – bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung – ein nach § 154 Abs. 1 StPO eingestelltes Verfahren wieder aufnehmen, ohne an die Beschränkungen des § 154 Abs. 3 und 4 StPO gebunden zu sein (BGHSt 30, 165; 37, 10, 11; BGHR StPO § 154 Abs. 4, Wiederaufnahme 1; BGH NStZ-RR 2007, 20; Meyer-Goßner StPO 53. Aufl. § 154 Rn. 21a). Ob es für die Wiederaufnahme eines „sachlich einleuchtenden Grundes“ bedarf (BGHSt 54, 1, 7; Rieß NStZ 1981, 2, 9; offen gelassen in BGHSt 37, 10, 13) kann dahin stehen. Solche Gründe waren hier, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, gegeben. Diese lagen vor allem in einem fortbestehenden Verfolgungsinteresse des Geschädigten.

    (…)
    Als rechtsfehlerhaft erweist sich aber, dass das Landgericht in der zwischenzeitlichen Nichtverfolgung und dem dadurch eingetretenen Stillstand im Ermittlungsverfahren einen zu kompensierenden Verstoß gegen den aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK, Art. 20 GG resultierenden Anspruch auf zügige Verfahrensdurchführung (vgl. BGHSt 52, 124, 129) gesehen hat. Der Gesetzgeber hat in § 154 Abs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft ermächtigt, in Durchbrechung des Legalitätsprinzips aus Opportunitätsgründen auf die weitere Verfolgung (vorläufig) zu verzichten (vgl. hierzu Rieß aaO; BT-Drs. 8/976 S. 40). Macht die Staatsanwaltschaft von dieser Möglichkeit aus verfahrensökonomischen Gründen Gebrauch und nimmt sie das Verfahren später in zulässiger Weise wieder auf, kann die hierdurch bewirkte Verzögerung jedenfalls nicht ohne weiteres den Vorwurf der Rechtsstaatswidrigkeit begründen.

    (…)
    Ein großer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten stellen regelmäßig selbst dann gewichtige Milderungsgründe dar, wenn diese sachlich bedingt waren (BGH NStZ 1986, 217, 218; 1991, 181; NJW 1990, 56; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl. Rn. 438; Fischer StGB 58. Aufl. § 46 Rn. 61 jew. mwN).“

    Folglich konnte das Verfahren wiederaufgenommen werden. Allerdings kritisiert der BGH, dass das Landgericht durch die späte Wiederaufnahme eine Verfahrensverzögerung angenommen hat. Daher sei die Vollstreckungsanrechung zu Unrecht gewährt worden, müsse aber bestehen bleiben, da sie den Angeklagten nicht beschwert. Dadurch könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass es Fehler beim Straf- und Maßregelausspruch entstanden ist. Somit wurde das Urteil diesbezüglich aufgehoben und an das Landgericht zurückverwiesen.


  • 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, Az.: 2 StR 354/10

    Die Strafkammer bot zu Beginn der Hauptverhandlung milde Strafobergrenzen im Gegenzug für Geständnisse an. Die Angeklagten gingen auf dieses Angebot nicht ein. Nach mehreren Verhandlungstagen unterbreitet die Strafkammer den Angeklagten erneut ein Angebot. Danach sollten bei Geständnissen die schon früher angebotenen Strafobergrenzen gelten; zudem sollte wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell in Höhe von sechs Monaten erfolgen; ferner sollte von der StA eine Halbstrafenmaßnahme befürwortet werden. Auch auf dieses Angebot gingen die Angeklagten nicht ein.
    Erst nach der Beweisaufnahme legten die Angeklagten die Geständnisse ab. Das Gericht stellte danach fest, dass keine Verständigung zustande gekommen sei. Die festgesetzten Gesamtstrafen liegen mäßig über der Strafobergrenze, eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung wurde nicht festgestellt.
    Dagegen wandten sich die Angeklagten mit dem Rechtsmittel der Revision.

    Der 2. Strafsenat vermag darin keine Verletzung von § 275c StPO erkennen, da eine Verständigung ausdrücklich nicht erfolgt sei. Zudem sei kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Das Angebot, eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festzustellen und durch Vollstreckungserklärung in Höhe von sechs Monaten kompensieren zu wollen, sei erkennbar fernliegend und falle nicht unter § 275c StPO.

    Aus dem Wortlaut des Beschluss:

    „Es lag auf der Hand, dass eine Art. 6 Abs. I MRK widersprechende Menschenrechtsverletzung nicht vorlag. Es ist schon zweifelhaft, ob durch die Beteiligung an einer solchen, § 257c StPO widersprechenden Absprache überhaupt ein Vertrauenstatbestand geschaffen werden könnte. Das gilt erst recht für Angebote und Absprachen, welche sich auf Zusagen beziehen, die nach § 257c II StPO schon ihrer Art nach gar nicht Gegenstand von Absprachen sein dürfen, hier also eine Halbstrafen-Aussetzung  gem. § 57 II StGB oder deren Befürwortung oder Beantragung.

    Im vorliegenden Fall kam es jedoch darauf nicht an, da bereits die Bedingung des Angebots des LG offenkundig nicht eingetreten war.“


  • 1. Strafsenat des OLG Nürnberg, Az.: 1 Ws 462/10

    Gegen den Beschuldigten wurde ein Haftbefehl wegen dringenden Tatverdachts und dem Haftgrund der Fluchtgefahr erlassen. Der Beschuldigte wurde in U-Haft verbracht und nach sechs Monaten die Haftfortdauer angeordnet.
    Die 1. Strafkammer hatte die Durchführung der Hauptverhandlung erst für einen Termin fünf Monate nach Abschluss der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vorgesehen.

    Nach Ansicht des 1. Strafsenats des OLG Nürnberg sind die Voraussetzungen für die Anordnung der Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinaus, gem. § 121 Abs. 1 StPO, nicht gegeben. Das Verfahren habe nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren.

    Aus dem Wortlaut des Beschlusses:

    „Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der U-Haft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegengehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der U-Haft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421).
    Dem trägt die Vorschrift des § l21 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der U-Haft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der U-Haft über sechs Monate hinweg zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50: 36, 264, 271). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der U-Haft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 [= StV 2006,148]).“

    Die Beschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg. Der 1. Strafsenat hob den Haftbefehl auf.


  • 4. Strafsenat des BGH, Az. 4 StR 514/09

    Der Angeklagte ist vom Landgericht Frankenthal wegen Beihilfe zum Betrug in insgesamt elf Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt worden. Die Verfahrensverzögerung, die im Zwischenverfahren eingetreten war, hat das LG dahingehend kompensiert, dass es vier Monate der Freiheitsstrafe für vollstreckt erklärt hat. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) und kann hiermit einen Teilerfolg erzielen.

    Wie der 4. Strafsenat feststellt, ist die Verurteilung wegen Beihilfe zum Betrug in einem der vom Landgericht aufgeführten Fälle aufgrund der eingetreten Verjährung rechtsfehlerhaft. Auch ein Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Ludwigshaften ist danach nicht geeignet gewesen, „eine Unterbrechung der Verjährungsfrist gemäß § 78 c Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB herbeizuführen, da er nicht die Beteiligung des Angeklagten an Taten des H. A. betraf“.

    Den betroffenen Verfahrensteil stellt der Senat somit ein und ändert den Schuldspruch entsprechend ab. Allerdings führt die Einstellung von diesem Verfahren in der Strafzumessung nicht zu einer Aufhebung der Gesamtstrafe.

    Auszug aus dem Wortlaut der Entscheidung:

    „Der mit der Teileinstellung verbundene Wegfall der Einzelstrafe von vier Monaten würde zwar für sich genommen angesichts der Anzahl und Höhe der verbleibenden Einzelstrafen nicht zur Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe führen. Die Strafzumessung begegnet aber aus anderen Gründen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Zumessungserwägungen des Landgerichts lassen nicht erkennen, ob es bei der Festsetzung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe die drohenden anwaltsrechtlichen Sanktionen gemäß § 114 Abs. 1 BRAO berücksichtigt hat. Die Nebenwirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung auf das Leben des Täters sind jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn dieser durch sie seine berufliche oder wirtschaftliche Basis verliert (vgl. BGH, Beschl. vom 27. August 1987 – 1 StR 412/87, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 8; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 46 Rdn. 9 m.w.N.).“

    Es ist daher nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass das Landgericht angesichts dieser Feststellungen insgesamt unter Berücksichtigung der erheblichen beruflichen Konsequenzen für den Angeklagten als Rechtsanwalt zu einer niedrigeren Freiheitsstrafe gelangt wäre. Die Entscheidung ist daher an den neuen Tatrichter zurückzuverweisen.

    Zudem wirken sich die Feststellungen des Senats auch auf die Kompensation wegen der hier vorliegenden und der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerungen aus. In Betracht kommt in diesem Fall ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als Regelung zur Verfahrensverzögerungen zu Lasten des Angeklagten. Einzig die Bemessung der Kompensation bedarf einer Überprüfung und neuen Entscheidung.

    Hierzu führt der Senat aus:

    „Die Revision beanstandet insoweit zu Recht, dass es nicht nur im Zwischenverfahren, sondern auch während des Ermittlungsverfahrens zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gekommen ist, weil das Verfahren nach Fertigung des Abschlussberichts der Polizei bis zur Anklageerhebung nicht erkennbar gefördert wurde. Dagegen hält sich die Zeitspanne zwischen dem Eingang der Revisionsbegründung und der Übersendung der Akten an den Generalbundesanwalt, wie dieser in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend dargelegt hat, trotz der zwischenzeitlichen Herbeiführung einer Beschwerdeentscheidung zur Frage einer ordnungsgemäßen Vertretung des Angeklagten durch einen weiteren Verteidiger innerhalb der üblichen Verfahrensdauer.“

    Folglich wird der neue Tatrichter auch über die Kompensation der der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerungen im Ermittlungsverfahren neu zu entscheiden haben. Dabei wird er sich an den vom Großen Senat für Strafsachen aufgestellten Maßstäben zu halten und die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen haben, wobei der 4. Strafsenat des BGH in seiner Entscheidung – in dieser Form eher ungewöhnlich – konkrete Vorgaben hinsichtlich der Höhe der Kompensation macht:

    „Die Anrechnung hat sich aber im Regelfall auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken (vgl. BGHSt 52, 124, 146 f.; BGH, Urt. vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08; Beschl. vom 11. März 2008 – 3 StR 54/08; Senatsbeschl. vom 24. November 2009 – 4 StR 245/09). Im Hinblick auf § 358 Abs. 2 StPO darf im vorliegenden Fall der nach Abzug des für vollstreckt zu erklärenden Teils der schuldangemessenen Strafe verbleibende Strafanteil jedenfalls acht Monate nicht übersteigen.“


  • 5. Strafsenat des BGH, Az. 5 StR 253/09

    Der Angeklagte hatte in den Jahren 1993 und 1994 mehrer Straftaten begangen, die sich auf die Einfuhr und das Handeltreiben von Haschisch bezogen. Erst im Jahre 2003 wurden die Straftaten entdeckt und am 8.6.2004 das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten eingeleitet.

    Grund für die Verzögerung war die Tatsache, dass der Angeklagte zwischenzeitlich nach Spanien umgezogen und erst ab 11.7.2004 wieder nach Berlin zurückgezogen war. Die Meldebehörden hatten ihrerseits diese Adressen nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Demnach ist aber kein Verstoß gegen Art. 6 MRK möglich.

    Der 5. Strafsenat des BGH hält die Revision des Angeklagten aus folgenden Überlegungen für begründet:

    “Das Landgericht verengt seine Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung unzulässigerweise allein auf die Justizbehörden. Diese sind zwar die wesentlichen Adressaten dieses Gebots gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK. In diesem Sinne wird deshalb auch in der strafgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich danach unterschieden, ob die Verzögerung in den Verantwortungsbereich der Justizbehörden oder des Angeklagten fällt (BVerfG [Kammer] StV 2006, 73 ff.; BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9, 21, 25, 27).“

    Dies richtet sich allerdings nicht ausschließlich an die Justizbehörde, sondern „an die Vertragsstaaten an sich, die dafür Sorge zu tragen haben, dass die Strafverfahren in angemessener Frist mit einer Entscheidung enden“. Indem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von den „nationalen Behörden“ spricht und die Menschenrechtskonvention die Einhaltung von gewissen Standards in den Konventionsstaaten abzielt, lässt er eine solche Auslegung und Beschränkung der Begrifflichkeit auf die Justizbehörde nicht zu. Vielmehr werden „innerstaatliche Behörden“ in den Verantwortungsbereich des Staates genommen, die allesamt einen Ausgleich von „Verfahrensunrecht“ zu leisten haben. Somit ist allein die Frage, ob die Verfahrensverzögerung von einer staatlichen Stelle und nicht nur der Justizbehörde zu verantworten ist.

    Unter dem Gesichtpunkt, dass sich Deutschland generell eine Verzögerung durch jedwede staatliche Stelle im Strafverfahren zuzurechnen hat, ist demnach das Verhalten der Meldebehörde (rechtswidriges) staatliches Handeln im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK. Dieses fand jedoch im vorangegangenen Urteil des LG Berlin im Hinblick auf die Strafbemessung keine Berücksichtigung.

    Des Weiteren liegt die Strafauffälligkeit des Angeklagten mehr als 15 Jahre zurück. Er selber ist längst in der Gesellschaft eingegliedert und hat sich seitdem nicht mehr kriminell betätigt. Fraglich ist daher, ob dieser Umstand zu einer Strafmilderung oder gar den Strafausschluss führt, da das Handlungsunrecht keiner weiteren Bestrafung und davon ausgehenden Warnfunktion bedarf.

    Der 5. Strafsenat lässt diese Frage zwar offen, gibt aber eine Tendenz vor:

    „Daher kann offen bleiben, ob das Landgericht im Rahmen seiner Strafzumessung dem Gesichtspunkt das gebotene Gewicht eingeräumt hat, dass der unbestrafte 45-jährige Angeklagte seine kriminellen Handlungen vor 15 Jahren von sich aus beendet und seither sozial eingeordnet gelebt hat. Dann hätte vor dem Hintergrund eines kaum mehr vorhandenen Bedürfnisses nach spezialpräventiver Einwirkung die besondere Härte, die eine Haftverbüßung für den Angeklagten nunmehr mit sich gebracht hätte (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), gleichfalls noch näherer Erörterung bedurft“

    Folglich müssten Tatsachen vorliegen und ferner vom Gericht als begründet angesehen werden, die für eine solche Härte der Haftverbüßung nach mehr als 15 Jahren sprechen. Obwohl es hieran im vorliegenden Fall fehlt, liegt es auf der Hand, dass ein Festhalten an dem eigentlichen Strafmaß als überzogen angesehen werden kann. Darüber wird das Gericht unter Erwägung der zwei genannten Strafmilderungsgründe erneut zu entscheiden haben.

  • Az. (1) 1 Ss 411/08 KG Berlin

    Der Angeklagte war durch das Urteil des Landgerichts Berlin vom 3.1.2006 wegen gewerbsmäßigen „Schmuggels“ in vier Fällen zu einer Gesamtstrafe von 1 Jahr mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Anschließend kamen weitere Fälle zum Vorschein. Am 20.06.2008 wurde der Angeklagte daraufhin vom LG wegen Schmuggelns in 69 Fällen zu 2 Jahren und einer Geldstrafe verurteilt, wovon 6 Monate Freiheitsstrafe als verbüßt galten. Daraufhin rügte der Angeklagte mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. In der Revision führte er an, dass die Strafkammer die vorliegenden Verfahrensverzögerungen nur bei der Kompensationsentscheidung, aber nicht bei der Strafzumessung berücksichtigt hätte.

    Zwar hat das Landgericht zur Begründung angeführt, dass ein allgemeines Strafbedürfnis durch den besonders langen Zeitabstand zwischen der Tatbegehung und dem Urteil abnehme, allerdings die aus der überlangen Verfahrensdauer resultierenden besonderen Belastungen für den Angeklagten nicht bei der Strafzumessung berücksichtigt. Insbesondere gilt dies zu beachten, wenn die Verfahrensdauer auf eine rechtswidrige Verfahrensverzögerung durch eine Behörde beruht.

    Die Tatsache, dass die Strafkammer des Landgerichts Berlin erst anderthalb Jahre nach Eingang der Akten mit der Berufungshauptverhandlung begonnen hatte, verdeutlicht,  welch erheblicher Belastung der Angeklagte ausgesetzt war.

    Des Weiteren stand im Raum, dass die Strafzumessung weitere Fehler enthält. So hätte das Gericht bereits zu einer anderen, milderen Strafe gelangen können,  wenn die StrK angesichts der Feststellung über die Verfahrensverzögerung

    „schon im Rahmen der Strafzumessung niedrigere Einzelgeldstrafen festgesetzt und die verhängten kurzen Freiheitsstrafen nicht als unerlässlich im Sinne des §47 I StGB angesehen hätte“.

    Nach Ansicht des KG Berlin könne daher auch die Kompensationsentscheidung, mit welcher das Landgericht die Verfahrensverzögerung zu Gunsten des Angeklagten ausgleichen wollte, keinen Bestand haben. Dies liege auch daran, dass das Gericht keine Anstrengung unternommen hat, die Verantwortlichkeit und Folgen der rechtstaatswidrigen Verzögerung festzustellen und zu berücksichtigen.

    Die Strafkammer hätte jedoch diese Feststellung über den von der Verfahrensverzögerung ausgehende Belastung bei der Strafzumessung berücksichtigen müssen. Nach Ansicht des Senats kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine höhere Kompensation durch die Strafkammer als der von einem Viertel der verhängten Strafen gelangt wäre und kam der Revision statt. Das Urteil wurde aufgehoben und zur neuen Entscheidung über die Strafzumessung zurückverwiesen.


Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht -
Strafverteidiger Dr. jur. Sascha Böttner

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