Vernehmung

  • 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, Az.: 1 StR 264/10

    Das LG Regensburg hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 20 Fällen, davon in 13 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, in fünf Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

    Während der Verhandlungstage vernahm das LG Regensburg die Geschädigte und ließ den Angeklagten jeweils für die Dauer der Vernehmung gemäß § 247 StPO aus dem Sitzungssaal entfernen. An einem Verhandlungstag legte die Verteidigung eine Fotografie vor, welche die Gegebenheiten einer von der Geschädigten in ihrer Vernehmung genannten Örtlichkeit zeigt. In das Protokoll wurde folgendes aufgenommen: „Der Verteidiger des Angeklagten übergab ein Lichtbild über die Örtlichkeiten des Badezimmers. Das Lichtbild wurde von der Kammer, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Sachverständigen, dem Verteidiger und der Zeugin in Augenschein genommen. Die Zeugin äußert sich hierzu.“

    Als der Angeklagte wieder in den Sitzungssaal gerufen wurde, hatte ihn der Vorsitzende Richter über die Aussage der Geschädigten informiert. Eine förmliche Augenscheinnahme des Lichtbildes fand nicht statt.
    Der Angeklagte wandte sich gegen das Urteil des LG Regensburg mit dem Rechtmittel der Revision.

    Die Revision der Strafverteidigung hatte Erfolg, der 1. Strafsenat des BGH hat ihr stattgegeben und das Vorliegendes absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO bejaht. Die durchgeführte Augenscheinsnahme sei vom restriktiv auszulegenden Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO nicht umfasst, so dass entgegen § 230 I StPO ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt worden sei.

    Aus dem Wortlaut des Beschluss:

    „Das Lichtbild wurde förmlich in Augenschein genommen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das gegenständliche Lichtbild lediglich, was als Teil der Vernehmung zulässig gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2002 – 1 StR 234/02), als Vernehmungsbehelf herangezogen wurde. Das Vorhalten von Urkunden und die Verwendung von Augenscheinsobjekten als Vernehmungsbehelfe im Verlauf einer Zeugenvernehmung hätten keiner Aufnahme in die Sitzungsniederschrift bedurft (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2000 – 1 StR 488/00, NStZ 2001, 262). Hier wird durch die Niederschrift über die Hauptverhandlung jedoch bewiesen (§ 274 StPO), dass eine förmliche Beweisaufnahme stattgefunden hat.
    Welche Verfahrensvorgänge vom Begriff der Vernehmung i.S.d. § 247 Satz 1 und 2 StPO erfasst werden, wird vom Gesetz nicht näher bestimmt. Dieser Begriff ist im Regelungszusammenhang der §§ 247, 248 StPO aufgrund der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, restriktiv auszulegen (BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, Rn. 14). Insofern kann die Erhebung eines Sachbeweises, auch wenn dies eng mit der Vernehmung verbunden ist, nicht als Teil der Vernehmung i.S.d. § 247 StPO angesehen werden. Vielmehr ist dies ein Vorgang mit einer selbstständigen verfahrensrechtlichen Bedeutung. Aus diesem Grund war die Augenscheinsnahme in Abwesenheit des Angeklagten vom Beschluss über seine Ausschließung nicht gedeckt. Somit fand ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten statt, dessen Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.“

    Das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG Regensburg zurückverwiesen.


  • 4. Strafsenat des BGH, Az. 4 StR 612/09

    Der Angeklagte ist wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten vom Landgericht Halle verurteilt worden. Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision und kann vor dem Bundesgerichtshof (BGH) einen Teilerfolg erzielen.

    Dem Beschluss liegt folgender Vorgang zugrunde: Am zweiten Verhandlungstag und für die Dauer der Vernehmung der Geschädigten E hatte das Landgericht die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal gemäß § 247 StPO angeordnet. Am folgenden Verhandlungstag wurden neun andere Zeugen in Anwesendheit des Angeklagten vorgenommen. Am vierten Verhandlungstag wurde dann die Vernehmung der Geschädigten unter Entfernung des Angeklagten fortgesetzt und schließlich beendet. Erst in Anschluss daran wurde der Angeklagte vom Vorsitzenden über den Inhalt der Bekundungen der beiden Vernehmungen der Geschädigten unterrichtet.

    Gestützt auf diesen Sachverhalt rügt der Angeklagte einen Verfahrensfehler. Der Strafsenat schließt sich den Ausführungen der Revision sowie des Generalbundesanwalts an und führt hierzu ergänzend aus:

    „Dieses Verfahren verstößt – wie die Revision zu Recht rügt – gegen die Vorschrift des § 247 Satz 4 StPO. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wiederum anwesend ist, vom wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist. Die durch § 247 StPO ermöglichte Verhandlung ohne den Angeklagten und seine dadurch behinderte Verteidigung sind, soweit unvermeidbar, hinzunehmen in Verbindung mit seiner Unterrichtung über das in seiner Abwesenheit Geschehene bevor weitere Verfahrenshandlungen erfolgen. Damit soll er weitgehend so gestellt werden, wie er ohne Zwangsentfernung gestanden hätte (vgl. BGHSt 3, 384, 385; BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 2). Auch wenn die während der Entfernung des Angeklagten durchgeführte Zeugenvernehmung noch nicht abgeschlossen, sondern nur unterbrochen war, muss der Angeklagte von dem in seiner Abwesenheit Ausgesagten unterrichtet werden, bevor in seiner Anwesenheit die Beweisaufnahme fortgesetzt wird. Nur so ist sichergestellt, dass der Informationsstand des Angeklagten im Wesentlichen dem der anderen Prozessbeteiligten entspricht und er seine Verteidigung, etwa durch Fragen an weitere Zeugen, sachgerecht auszuüben vermag (st. Rspr.; vgl. BGHSt 38, 260; Senat NStZ-RR 2005, 259; vgl. auch Meyer-Goßner StPO 52. Aufl. § 247 Rdn. 15).“

    Angesichts dieses Verlaufs hätte der am 3. Verhandlungstat die Beweisaufnahme erst dann fortgesetzt werden dürfen, wenn der Angeklagte nach seiner Entfernung über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Geschädigten unterrichtet worden wäre. Dies ist jedoch nach Auswertung des Sitzungsprotokolls nicht erfolgt. Die „Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten, die nach § 273 Abs. 1 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll zu beurkunden sind (vgl. BGHSt 1, 346, 350; Meyer-Goßner a.a.O. Rdn. 17).”

    Dadurch entstand für den Angeklagten ein Nachteil bzgl. seiner Verteidigung. So heißt es im Wortlaut des Beschlusses:

    „Jedoch wurde dem Angeklagten im vorliegenden Fall die Möglichkeit genommen, den nach der Vernehmung der Geschädigten und vor seiner Unterrichtung über deren (Teil-)Aussage vernommenen weiteren Zeugen Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen, wenn Widersprüche zu den Angaben der Geschädigten aufgetreten waren. Dies betrifft die Angaben der Zeugen W. , H. und L. , die das Landgericht für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten herangezogen hat, ebenso wie die der Zeugen Ha. , Sch. , S. und B. , auf die es sich zur Widerlegung der bestreitenden Einlassung des Angeklagten gestützt hat.“

    Aus diesem Grund führt dieser aufgezeigte Verfahrensfehler zur Aufhebung des Urteils im Fall II und somit zur Aufhebung des Strafausspruchs über die Gesamtstrafe.

  • (Mehr) Transparenz im Strafverfahren
    von Dr. Böttner, Strafverteidiger aus Hamburg

    In der 5. AG des 34. Strafverteidiger-Tage in Hamburg wurde sich primär mit dem Gesetzentwurf des Strafrechtsausschusses der BRAK zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren vom 18.02.2010 auseinandergesetzt, der den verstärkten Einsatz von Bild-Ton-Technik mit sich bringt. Doch ist die Videoaufzeichnung ein sinnvoller und vor allem zeitgemäßer Schritt zur Gewährleistung der Strafverfolgung oder führen solche Methoden der Videovernehmung zu einer Totalüberwachung?

    Für die Polizeibehörde bedeutet die Videovernehmung eine neue Art der Kontrolle, die sich der vernehmende Polizeibeamte im späteren Verfahren ausgesetzt sehen könnte und eine konkrete Überprüfung der Vernehmung und dessen rechtstaatlicher Durchführung ermöglicht. Diese hat auch für einen bewusst täuschenden oder lügenden Vernehmungsbeamten Folgen.

    Anders sehen es jedoch die Teilnehmer der AG. Die Überprüfung der Glaubwürdigkeit einer Aussage und insbesondere eines Geständnisses bedeutet für den Strafverteidiger, sich zwar auf der einen Seite über Risikofaktoren und Begleitumstände zu informieren und auch sein persönliches Geschick zu nutzen, jedoch ist die Verwendung von authentischen Protokollen unabdingbar. Der Einsatz von Videovernehmungen erschafft darüber hinaus nicht nur ein solches Wortprotokoll, sondern bietet deutlich mehr Platz für die Überprüfung des tatsächlichen Ablaufes der Vernehmung.

    Aus diesem Grund begrüßen die Teilnehmer der AG den BRAK-Entwurf zur Videodokumentation und führen noch einige Ergänzungen an:

    Das Video als Protokollbefehl sollte nach Vorstellung der Teilnehmer nach jedem Hauptverhandlungstag zu den Akten genommen werden. Zusätzlich müsste das Video noch in der laufenden Hauptverhandlung gemäß §147 StPO für die Verteidigung einsehbar sein, so dass weitere Unklarheiten in der Beweisaufnahme und sonstige fehlerhafte Abläufe aufgeklärt werden könnten. Hierzu weisen die Teilnehmer der 5. AG darauf hin, dass eine Videoaufnahme der Hauptverhandlung – wie sich in anderen Rechtskreisen bereits zeigte – einen „gewissen Disziplinareffekt auf die Verfahrensbeteiligten“ hat.

    Des Weiteren bietet die Videodokumentation auch die nahe liegende Erweiterungsmöglichkeit, sich auch auf das Ermittlungsverfahren auszudehnen und beispielsweise bei Beschuldigtenvernehmungen durch die Videoaufzeichnung Manipulationen und Fehler aufzuzeigen, jedenfalls durch diese Kontrolle zu minimieren.

    Interessant ist ferner, inwiefern der Einsatz von Videoaufzeichnungen das Aussageverhalten der Beschuldigten verändert und dieser durch eine solche technische Kontrolle einer (auch subjektiv empfundenen) anderen Situation ausgesetzt wird. Empirische Studien und eine wissenschaftliche Begleitung über das eventuell geänderte Aussageverhalten sind wünschenswert.

    Allerdings kritisieren die Teilnehmer der 5. AG, dass der neue Entwurf zur Videodokumentation in § 136 StPO nF nicht die Belehrungspflicht über die Videovernehmung vorsieht. Es wird aufgrund der eventuell bedeutsamen Rolle der Videoaufzeichnung für das spätere Verfahren eine zwingende Verteidigerbeiordnung bei der geplanten Videovernehmung des Beschuldigten gefordert, um bei dem Beschuldigten zu keinem (späteren) Nachteil zu sorgen.

  • 3. Strafsenat des BGH, Az. 3 StR 443/08

    Der Angeklagte war vom Landgericht Hannover wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt worden.  Hiergegen hat er Revision erhoben. Im Zentrum der Revision stand die Frage, ob „vor der zweiten Vernehmung der Geschädigten [..] für den erfolgten Ausschluss der Öffentlichkeit ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich gewesen wäre“.

    Die Zeugin ist erstmals am 20. Februar 2008 in der Hauptverhandlung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch Gerichtsbeschluss vernommen worden, was sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung sind bereits weitere Zeugen und Sachverständige gehört worden.

    Am 6.3.2008 wurde die Nebenklägerin dann ein zweites  Mal vernommen. Ein Geschäftsbeschluss hierfür fehlte. Allerdings war nach Auffassung des Landgerichts Hannover die Vernehmung der Zeugin noch nicht beendet. Dies ist jedoch weder dem Sitzungsprotokoll noch dem weiteren Verfahrensverlauf zu entnehmen.

    Der GBA nahm wie folgt dazu Stellung:

    „Denn wenn derselbe Zeuge in der laufenden Hauptverhandlung nochmals unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden soll, ist grundsätzlich gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich und mithin eine Anordnung des Vorsitzenden, in der auf einen vorausgegangenen Ausschließungsbeschluss Bezug genommen wird, nicht ausreichend (BGH StV 2008, 126f.).“

    Wenn jedoch die Vernehmung bereits am 20. Februar als bereits abgeschlossen zu sehen war und keine Anzeichen für eine erneute, weitere Vernehmung (oder hier: Fortführung der Vernehmung) zu erkennen waren, ist die Vernehmung vom 6.3.2008 nicht notwendig und daher ohne Gerichtsbeschluss unzulässig gewesen. Eine von der Rechtsprechung anerkannte Ausnahme von der Notwendigkeit eines Gerichtsbeschlusses, wenn aufgrund der Interessenlage die zusätzliche Anhörung zusammen mit der vorausgegangenen eine „einheitliche Vernehmung“ darstellt, lag hier nicht vor.

    Dies zeigt bereits der zeitliche Abstand sowie die Tatsache, dass bereits eine weitere Beweisaufnahme zwischen den beiden Vernehmungen stattgefunden hatte, was gegen eine einheitliche Vernehmung spricht.

    Weiter führt der GBA hierzu aus:

    „Soweit in den eingeholten dienstlichen Stellungnahmen hervorgehoben wird, allen Verfahrensbeteiligten sei klar gewesen, dass die Geschädigte ’noch einmal ergänzend‘ vernommen werden musste, vermag dies angesichts der oben dargelegten Umstände nichts daran zu ändern, dass die Vernehmung vom 20. Februar 2008 bereits abgeschlossen war.“

    Der BGH schloss sich der Stellungnahme des GBA in seinem Beschluss an.  So wäre nach § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG ein neuer Gerichtsbeschluss erforderlich gewesen. Die Revision hatte Erfolg, das Urteil wurde aufgehoben und zwecks Durchführung der neuen Haupverhandlung und neuer Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.


Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht -
Strafverteidiger Dr. jur. Sascha Böttner

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