BGH: Zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung

BGH, Urteil vom 04.08.2011, Az.: 3 StR 175/11

Nach den Feststellungen des Landgerichts Aurich zwang der Angeklagte die Nebenklägerin im Mai 2009 durch erhebliche, zum Verlust von Zähnen führende Gewalt zuerst zum Oralverkehr und sodann zum Geschlechtsverkehr.

Nach einer Trennung „passte“ der Angeklagte sie Ende Mai / Anfang Juni in den Abendstunden auf einem Spaziergang „ab“ und zwang sie unter Todesdrohungen und Einsatz einfacher körperlicher Gewalt in einem Waldstück erneut zum Geschlechtsverkehr.

Im Juli 2010 überraschte der Angeklagte die Nebenklägerin erneut auf einem Abendspaziergang. Er zwang sie, indem er sie bis zur Luftnot würgte und mit dem Tod bedrohte, zur Herausgabe ihres Mobiltelefons und verbrachte sie auf den Rücksitz ihres Autos. Im Anschluss daran fuhr der Angeklagte mit ihr zu seiner Wohnung. Dort schlug er sie mehrfach ins Gesicht, zerrte an ihren Haaren, riss ihren Kopf nach hinten und nötigte sie damit zum Oralverkehr. Sodann zwang er sie mit weiteren Schlägen, sich auszuziehen und sich selbst zu befriedigen, was der Angeklagte mit einer Kamera filmte. Danach nötigte er die Nebenklägerin mit Gewalt insgesamt zweimal zum Geschlechtsverkehr.

Das Landgericht Aurich hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in drei Fällen sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und Bedrohung zum Nachteil seiner früheren Lebensgefährtin verurteilt. Es wurden Einzelstrafen von vier Jahren, drei Jahren und sechs Monaten, neun Monaten sowie von sechs Jahren verhängt und daraus eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten gebildet.

Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat das Gericht abgesehen und dazu ausgeführt:

„Es bestehe aufgrund der dissozialen Persönlichkeitsstörung des Angeklagten zwar eine eher hohe Rückfallgefahr, indes könne bei dem Angeklagten ein Hang zu erheblichen Straftaten (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF) nicht festgestellt werden. Die dissoziale Persönlichkeitsstörung weise keine sadistischen Anteile auf; die Merkmale der „Psychopathy“ seien nur im „unteren Bereich“ zu bejahen; antisoziale Denkstile seien beim Angeklagten nicht festzustellen; eine progrediente Entwicklung der Straftaten sei nicht zu erkennen; zwischen den früheren Straftaten lägen teilweise lange Zeitabschnitte; es könne „bei keiner der Vergewaltigungstaten festgestellt werden, dass der Angeklagte nicht lediglichsich ihm bietende Gelegenheiten zu sexuellen Handlungen wahrgenommen“ habe.

Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Das Angriffsziel war durch den BGH durch Auslegung zu ermitteln, da sich Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründung widersprachen. Der BGH hat die Revision auf die Nichtanordnung der Maßregel der Sicherungsverwahrung beschränkt.

Dazu führte der BGH aus:

„Die Begründung, mit der das Landgericht beim Angeklagten einen Hang zu erheblichen Straftaten verneint hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie geht in Teilen von falschen Maßstäben aus oder steht im Widerspruch zu den Feststellungen.

Das Landgericht hat das Fehlen sadistischer Anteile in der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten fehlerhaft bewertet. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es auf die Ursache für die fest eingewurzelte Neigung zu Straftaten nicht an (BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436/79, NJW 1980, 1055 mwN). Ein Hang zur Begehung von erheblichen, gewalttätigen Sexualdelikten kann auch dann vorliegen, wenn der Täter in der Verletzung oder Demütigung seines Opfers nicht die hauptsächliche Quelle der Erregung oder der Befriedigung findet (vgl. zum Sadismus Elsner/Leygraf in Kröber u.a., Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd. 2, 1. Aufl., S. 472, 485).“

„Die Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt worden ist, führt hier auch zur Aufhebung des Strafausspruches. Denn es lässt sich nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht zugleich auf Sicherungsverwahrung erkannt hätte (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 1979 – 3 StR 436/79, NJW 1980, 1055 mwN; Urteil vom 3. Februar 2011 – 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172).“

Damit bewertet der BGH die Entscheidung des Landgerichts Ausrich bezüglich der Sicherungsverwahrung als fehlerhaft.

Allerdings hat der Senat auf die Neuregelung der Sicherungsverwahrung hingewiesen:

„Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931) sind u.a. die hier anzuwendenden Bestimmungen über die Sicherungsverwahrung als mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber angeordnet, dass die Vorschriften bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber – längstens bis 31. Mai 2013 – nach Maßgabe der Gründe seiner Entscheidung weiter anwendbar bleiben. Danach bedarf es wegen der derzeit verfassungswidrigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung einer „strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung“, wenn sie gleichwohl angeordnet werden soll. In der Regel wird die Anordnung nur verhältnismäßig sein, wenn „eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist“ (BVerfG aaO Rn. 172).

Der Senat versteht die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung“ dahin, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit – mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung (vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. Mai 2011 – 4 StR 164/11) – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist.

Hierzu im Einzelnen:

(1) Hinsichtlich der Erheblichkeit weiterer Straftaten kommen regelmäßig nur „schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten“ in Betracht. Hierin liegt, ansonsten wäre die genannte Maßgabe ohne Inhalt, eine Einschränkung gegenüber den Taten, die nach bisher geltendem Recht Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung darstellen. Dies gilt sowohl für die Straftatenkataloge als auch für die Beschreibung der Taten, auf die sich der Hang beziehen muss. Nicht alle „erheblichen Straftaten“, durch welche die Opfer „seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“ (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF bzw. § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB), sind auch „schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten“ im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zur Weitergeltung von § 66 StGB.

Nach Ansicht des Senats sind Vergewaltigungen (§ 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB) wegen der dafür im Regelfall angedrohten Mindeststrafe von zwei Jahren sowie der für die Tatopfer damit regelmäßig verbundenen psychischen Auswirkungen grundsätzlich als „schwere Sexualstraftaten“ im vorstehenden Sinn anzusehen.

(2) Die Wahrscheinlichkeit der Begehung solcher Taten muss „aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten“ sein. Auch dies stellt höhere Anforderungen als die bislang vom Gesetz als Beurteilungsgrundlage für die Gefährlichkeitsprognose geforderte „Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten“. Das Landgericht hat – aus seiner Sicht folgerichtig – zur Gefahrenprognose lediglich ausgeführt, die Rückfallgefahr sei „eher hoch“ und die Gefährlichkeit des Angeklagten würde „bejaht“. Solche verkürzten Darlegungen würden selbst den hergebrachten Anforderungen nicht genügen. Der neue Tatrichter wird ggf. die Gefährlichkeit aus konkreten Umständen herleiten und sich dabei insbesondere damit auseinandersetzen müssen, dass die Taten des Angeklagten aus dem situativen Zusammenhang einer Beziehungskrise begangen worden und zwischen den abgeurteilten Taten und den früheren Vergewaltigungen Zeiträume von fünfeinhalb bzw. 19 Jahre verstrichen sind.

b) Die Anordnung der Sicherungsverwahrung könnte, sofern der neue Tatrichter einen Hang zu erheblichen Straftaten und eine auf ihm beruhende Gefährlichkeit des Angeklagten bejahen sollte, nur auf § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 StGB aF gestützt werden. § 66 Abs. 1 StGB aF kommt als Grundlage dafür nicht in Betracht, da die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung aus dem Jahr 1985 auf Grund der eingetretenen „Rückfallverjährung“ (§ 66 Abs. 4 Satz 3 StGB aF) als Vorverurteilung ausscheidet und deshalb die formelle Voraussetzung einer zweiten Vorstrafe fehlt.

c) Die Anordnung läge sodann im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Dieser soll die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten hangbedingten Gefährlichkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich der Täter schon die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit wird dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung getragen, der sich daraus ergibt, dass § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB – im Gegensatz zu Absatz 1 der Vorschrift – eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzen. Die maßgeblichen Gründe für seine Ermessensentscheidung muss der Tatrichter nachvollziehbar darlegen, um dem Revisionsgericht die Nachprüfung der Ermessensentscheidung zu ermöglichen (Urteil vom 3. Februar 2011 – 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172 mwN).“

Somit wird das Urteil des Landgerichts Aurich mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Die Strafkammer hat bei der Entscheidung insbesondere den strengeren Maßstab der Sicherungsverwahrung zu beachten.


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