Für das Strafmaß in einem Strafprozess kann die Schuldfähigkeit des Beschuldigten eine entscheidende Rolle spielen. Ist ein Täter schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB, zum Beispiel aufgrund einer psychischen Krankheit oder weil durch Alkoholkonsum bestimmte Promille-Grenzen überschritten wurden, die eine Schuldunfähigkeit nahelegen, erfolgt keine Bestrafung.
Das Gericht kann in Fällen der Schuldunfähigkeit jedoch Maßregeln anordnen.
Im vorliegenden Fall hatte der BGH darüber zu entscheiden, ob das Nachstellen bzw. Stalking eher zu maßregeln oder eher zu bestrafen ist. Die Stalking-Entscheidung kann für zukünftige Verfahren richtungsweisend sein.
BGH, Beschluss vom 26.10.2011, Az.: 2 StR 328/11
Das Landgericht Darmstadt hat den Angeklagten wegen Verbreitens kinderpornografische Schriften in 22 Fällen und wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Angeklagte mit der Revision.
„Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ist die Vorschrift des § 66 StGB verfassungswidrig und gilt nur vorläufig bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber weiter. Während der Dauer seiner Weitergeltung muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung in ihrer derzeitigen Ausgestaltung um einen verfassungswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht handelt. Nach der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts darf die Regelung der Sicherungsverwahrung nur nach Maßgabe einer „strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung“ angewandt werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter. In der Regel wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nur gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder in dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Insoweit gilt in der Übergangszeit ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Verhältnismäßigkeitsmaßstab (Senat, Urteil vom 7. Juli 2011 – 2 StR 184/11; BGH, Urteil vom 7. Juli 2011 – 5 StR 192/11; Beschluss vom 4. August 2011 – 3 StR 235/11).
Jedenfalls nach diesem Maßstab hat das Landgericht weder einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine daran anknüpfende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten tragfähig begründet. Das Landgericht hat nicht näher dargelegt, auf welche konkreten „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern“ (UA S. 52, 55) sich der Hang des Angeklagten bezieht und welche solcher Straftaten von ihm mit welcher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Damit genügen die Entscheidungsgründe nicht den Darstellungsanforderungen, die von der Rechtsprechung an die Beurteilung des Hangs und an die Gefährlichkeitsprognose gestellt werden, um eine revisionsgerichtliche Nachprüfbarkeit der vom Tatrichter vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten zu ermöglichen (BGH, Beschluss vom 27. September 1994 – 4 StR 528/94, NStZ 1995, 178; Beschluss vom 30. März 2010 – 3 StR 69/10, NStZ-RR 2010, 203; Beschluss vom 15. Februar 2011 – 1 StR 645/10, NStZ-RR 2011, 204; Beschluss vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11).
Soweit die Strafkammer vor dem Hintergrund der Anlasstaten auf die fest verwurzelte pädophile Neigung des Angeklagten und auf eine verharmlosende Haltung zur Kinderpornografie abgestellt hat, deren Konsum ihn eigenen Angaben zufolge von sexuellen Übergriffen auf Kinder abgehalten habe, mag dies einen Hang zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach der Art und mit dem Gewicht der Anlasstaten gemäß § 184b Abs. 1 und 2 StGB belegen. Derartige Delikte des Umgangs mit Kinderpornografie, dessen Strafbarkeit nach dem gesetzlichen Regelungszweck des § 184b StGB darauf abzielt, der mittelbaren Förderung des sexuellen Missbrauchs von Kindern entgegenzuwirken (vgl. Fischer, StGB 58. Aufl., § 184b Rn. 2), sind allerdings nicht als ausreichend schwere (Sexual-)Straftaten anzusehen, auf die sich nach der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts der kriminelle Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF beziehen muss.
Für einen Hang des Angeklagten auch zu erheblichen Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Kindern ließen sich zwar die vom Landgericht gewürdigten Vortaten anführen, zu denen auch Fälle des sexueller Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 StGB zählten, die grundsätzlich „schwere Sexualstraftaten“ im Sinne der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts darstellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. August 2011 – 3 StR 208/11 und vom 11. August 2011 – 3 StR 221/11). Die letzten dieser Taten lagen jedoch über zwölf Jahre zurück. Das darin vom Landgericht erkannte, aber ohne Bedeutung für die Gefährlichkeitsprognose erachtete „Abschwächen der Deliktsintensität“ (UA S. 55, 59) hätte bereits bei der für das Vorliegen eines Hangs vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller konkreten Umstände berücksichtigt werden müssen, die für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Taten maßgebend sind.“
Aus diesen Gründen hat der BGH das Urteil des Landgerichts aufgehoben. Zwar lägen die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung vor, allerdings seien die materiellen Voraussetzungen nicht ausreichend dargelegt. Das Landgericht habe eine ausführliche Abwägung vornehmen müssen. Insbesondere seien die Anforderungen an die Beurteilung des „Hangs“ und an die sogenannte Gefährlichkeitsprognose nicht erfüllt, wodurch der BGH die Überlegungen des Tatgerichts nicht ausreichend überprüfen kann.
3. Strafsenat des BGH, Az. 3 StR 69/10
Der Angeklagte ist vom Landgericht Mönchengladbach wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in insgesamt sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Außerdem wurde die Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Angeklagte richtet sich mit seiner Revision gegen seine Verurteilung und kann einen Teilerfolg vor dem Bundesgerichtshof (BGH) erzielen.
Der damals 57 oder 58 Jahre alte Angeklagte baute zu zwei Mädchen aus der Nachbarschaft im Alter von zehn bis zwölf Jahren eine Freundschaft auf und kümmerte sich im Einverständnis mit dessen Eltern um diese, indem er mit den Kindern Ausflüge unternahm oder sie von der Schule abholte. Während der Sommerferien 2008 befanden sich die Kinder ständig von morgens bis abends bei ihm. In diesem Zeitraum von Anfang Juni bis Ende August 2008 missbrauchte er die beiden Kinder.
Während der Strafausspruch nach Ansicht des Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht zu beanstanden sei, könne die Anordnung der Sicherungsverwahrung jedoch nicht bestehen bleiben, „da das Landgericht weder einen Hang zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine auf ihm beruhende zukünftige Gefährlichkeit des Angeklagten tragfähig begründet hat“.
Hierzu führt der Senat aus:
„Das Merkmal „Hang“ im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als „eingeschliffenes Verhaltensmuster“ bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt – nach sachverständiger Beratung – unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände dem Richter in eigener Verantwortung (BGH, Urt. vom 17. Dezember 2009 – 3 StR 399/09 – Rdn. 4).“
Einer solchen Feststellung fehlt es jedoch im angefochtenen Urteil. Das Landgericht stellt lediglich fest, dass „bei dem Angeklagten die aus psychologisch-psychiatrischer Sicht für einen Hangtäter sprechenden Risikofaktoren für die Begehung weiterer sexueller Missbrauchstaten von Kindern nach Anzahl und Gewicht (überwiegen). Dieses ließe erwarten, dass der Angeklagte auch weitere im mittleren bis schweren Bereich anzusiedelnde sexuelle Missbrauchstaten begehen wird.“
Daran lässt sich erkennen, dass das Landgericht die Entscheidung über das Merkmal des Hanges einem Sachverständigen überließ sowie eine notwendige Gesamtwürdigung von Taten und Täterpersönlichkeit fehlt. Das ist jedoch bei einer solchen Prognose einzubeziehen:
„Diese [Gesamtwürdigung] ist mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen, wenn – wie hier – bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB in Ermangelung von symptomatischen Vortaten und neuerlicher Delinquenz trotz erfolgter Strafverbüßung die Tatsachengrundlage besonders schmal ist (vgl. BGHR StGB § 66 Abs. 3 Katalogtat 1). In die Würdigung wäre hier u. a. einzustellen gewesen, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte bislang ein unauffälliges Leben führte und aus mehreren, zum Teil langjährigen Beziehungen mit Frauen insgesamt vier erwachsene Kinder hatte. Zudem handelte es sich um einen äußerst kurzen Tatzeitraum.“
Auch die Gleichstellung von einer positiven Gefährlichkeitsprognose mit der Feststellung eines Hangs wäre rechtsfehlerhaft, da beides keine identischen Merkmale sind und dieses auch im Gesetz unterschieden wird. Vielmehr ist der Hand nur ein wesentliches Kriterium für eine Prognose.
Des Weiteren sei nach Ansicht des Strafsenats auch die Beurteilung der Gefährlichkeit rechtlich zu beanstanden. Zwar sei das vom Landgericht verwendete Prognoseinstrument „Static 99“ ein Instrument, das zur Vorhersage von Rückfällen bei Sexualdelinquenz verwendet werden kann, jedoch sei das Ergebnis des Sachverständigen nicht ersichtlich erklärt. Insbesondere ist es fraglich, wie ein so hoher Risikowert zu Stande kommen kann, wenn es sich um einen nahezu 60 jährigen Angeklagten mit langjährigen Beziehungen zu Frauen handelt, der zu den Opfern und in der Nachbarschaft über Jahre eine gute Beziehung hatte sowie bei seiner Tat ohne Gewalt vorging. Auch unterlässt das Landgericht darzulegen, welche Straftaten in welchem Zeitraum sowie mit welcher Wahrscheinlichkeit vom Angeklagten nach deren Prognoseentscheidung auszugehen sind. Hier beschränkt sich das LG Mönchengladbach auf die Festestellung des „hohe Risikos“ beim Angeklagten.
Insgesamt können solche statistischen Prognoseinstrumente für die Prognose nur Anhaltspunkte liefern, eine fundierte Einzelbetrachtung daher nicht ersetzen. Es bedarf auch einer Einzelfallanalyse durch einen Sachverständigen.
Angesichts der Rechtsfehler ist das Urteil aufzuheben und an das Landgericht zurückzuverweisen. Für die neue Entscheidung über den Maßregelausspruch ist die Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen zu empfehlen.
Der Angeklagte ist vom Landgericht Augsburg wegen sechs tatmehrheitlichen Fällen der Bedrohung, davon drei Fällen in Tateinheit mit Beleidigung, wegen zwei Fällen der Störung des öffentlichen Friedens, davon einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung sowie wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung insgesamt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Darüber hinaus hat das Landgericht die Unterbringung in einem psychischen Krankenhaus angeordnet.
Gegen das Urteil wandte sich der Angeklagte mit seiner Revision vor dem Bundesgerichtshof und kann hiermit einen Teilerfolg erzielen:
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht -
Strafverteidiger Dr. jur. Sascha Böttner