Das Einvernehmen des Opfers mit sexuellen Handlungen schließt einen sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses nicht aus.
Dem 57-jährigen Angeklagten wurde vorgeworfen, als Heilpraktiker sexuelle Handlungen an einer Patientin vorgenommen zu haben. Die Frau gab sich beim Heilpraktiker aufgrund eines unerfüllt gebliebenen Kinderwunsches in Behandlung. Dabei wurde der „Vaginalraum“ der Patientin durch Finger des Heilpraktikers „mobilisiert“. Zusätzlich versuchte der Heilpraktiker sein Glied in den Mund der Patientin einzuführen. Die Frau war damit jedoch nicht einverstanden und drehte den Kopf weg. Einer anderen Patientin, die wegen Migräne kam, biss der Angeklagte völlig unerwartet in die unbekleidete linke Brust. Mit einer weiteren Patientin führte der Angeklagte mehrfach einvernehmlich ungeschützten Geschlechtsverkehr durch.
Das Landgericht Münster verurteile den Angeklagten wegen dem versuchten Oralverkehr und dem Biss in der Brust wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses. Bezüglich der restlichen Taten (Geschlechtsverkehr) mochte das Landgericht keine Strafbarkeit erkennen, da die Frauen ihr Einverständnis erteilt hätten.
Gegen die Verurteilung legte sowohl die Strafverteidigung als auch die Staatsanwaltschaft Revision ein.
Bezüglich der Patientin, die wegen eines unerfüllten Kinderwunsches zum Angeklagten ging, kritisiert der Bundesgerichtshof (BGH), dass das Landgericht nicht hinreichend festgestellt hatte, inwieweit das Opfer dem Täter wegen einer Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut war. Ein unerfüllter Kinderwunsch ist für sich betrachtet noch keine Krankheit oder Behinderung. Dies verlangt der § 174c StGB jedoch. Insoweit hatte die Revision der Strafverteidigung Erfolg.
Die Revision der Staatsanwaltschaft zielt dagegen auf die Freisprüche aufgrund der Einverständnisse der Frauen ab. Der BGH weist darauf hin, dass ein Einverständnis oder eine Einwilligung für den Straftatbestand unbeachtlich sei. Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzesmaterial zur ursprünglichen Fassung von § 174c Abs. 1 StGB. Auch als der Paragraph später um körperliche Erkrankungen erweitert wurde, wollte der Gesetzgeber daran nichts ändern:
Dem Gesetzgeber kam es mithin darauf an, sexuelle Kontakte in Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen generell und selbst bei einem Einverständnis des Patienten als missbräuchlich auszuschließen (Laubenthal aaO Rn. 276; Lackner/Kühl aaO § 174c Rn. 5; Wolters aaO § 174c Rn. 7).
Weiter stellt der BGH fest: Auch der Wortlaut der Norm verlangt keine Nötigung des Opfers. Der Begriff „Missbrauch“ verlangt lediglich, dass der Täter die Gelegenheit des Behandlungsverhältnisses ausnutzt. Eine Unterscheidung zwischen körperlichen und seelischen Erkrankten, wie sie teilweise in der Literatur vorgenommen wird, lehnt der Senat ebenfalls ab.
Auch der vorrangig bezweckte Schutz der Selbstbestimmung des Opfers steht einer Strafbarkeit des Täters nicht entgegen. Denn es ging dem Gesetzgeber nicht ausschließlich um sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers, sondern die Strafbarkeit der Handlung ergibt sich schon aus den äußeren Umständen. Der Gesetzgeber sieht demnach die Selbstbestimmung der Patienten grundsätzlich in solchen Situationen beeinträchtigt:
Auch bei § 174c StGB kam es dem Gesetzgeber – wie oben ausgeführt – dementsprechend darauf an, sexuelle Kontakte in Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnissen als missbräuchlich auszuschließen, weil er die freie Selbstbestimmung in dem maßgeblich vom Täter beeinflussten Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis des Kranken oder Behinderten und seiner sich daraus ergebenden Schutz- und Hilfsbedürftigkeit generell als beeinträchtigt ansah (vgl. dazu auch BT-Drucks. 13/8267 S. 4 sowie Fischer aaO S. 93).
Nur ausnahmsweise kann eine Strafbarkeit entfallen, wenn keine Vertrauensstellung ausgenutzt wurde. Eine Ausnutzung wird jedoch regelmäßig vermutet, so dass besondere Umstände dazu treten müssen, dass diese Vermutung widerlegt wird. Das Einverständnis einer Patientin ist ein gewichtiger Umstand, jedoch reicht dies alleine noch nicht aus:
Jedoch genügt ein Einverständnis allein – wie oben ausgeführt – nicht, um einen Missbrauch auszuschließen. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen, aufgrund derer davon auszugehen ist, dass eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses regelmäßig gegebene Vertrauensbeziehung entweder tatsächlich nicht bestand oder für die Hinnahme der sexuellen Handlung ohne Bedeutung war (vgl. auch BT-Drucks. VI/3521 S. 26, 27 [zu § 174a StGB]; BGH, Beschluss vom 25. Februar 1999 – 4 StR 23/99, NStZ 1999, 349 [zu § 174a StGB]).
Besondere Umstände könnten dagegen vorliegen, wenn Täter und Opfer Ehepartner oder Lebensgefährten wären. Dem ist in diesem konkreten Fall jedoch nicht so. Daher haben die Freisprüche des Angeklagten bezüglich dieser Taten keinen Bestand. Soweit die Revisionen Erfolg hatten, muss das Landgericht erneut über die Sache entscheiden.
BGH, Beschluss vom 14. April 2011, Az.: 4 StR 669/10