OLG Köln, Beschluss vom 10.06.2011, Az.: III 1 RVs 96/11 – 82 Ss 30/11
Das Amtsgericht Düren hat die Angeklagte wegen „gemeinschaftlichen Diebstahls“ zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt.
Ihre hiergegen gerichtete Berufung vor dem Landgericht Aachen ist erfolglos geblieben. Nach den Feststellungen des Landgerichts ist die Angeklagte allein erziehende Mutter und hat drei Kinder im Alter von 17, 10 und 9 Jahren. Sie bezieht Kindergeld sowie Leistungen nach Hartz IV für sich und ihre Kinder.
Mit der Revision rügt die Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts und im Besonderen die Bemessung der Tagessatzhöhe. Dazu da OLG:
„Näherer Erörterung bedarf es lediglich in Bezug auf die Festsetzung der Tagessatzhöhe, die im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Dieser ermessensähnlich ausgestaltete Strafzumessungsakt entzieht sich einer schematischen Behandlung und ist damit revisionsrechtlich nur in eingeschränktem Maße überprüfbar (SenE v. 30.10.2007 – 82 Ss 123/07 -; SenE v. 24.03.2009 – 83 Ss 13/09 -; SenE v. 08.06.2010 – III-1 RVs 70/10 -; SenE v. 13.08.2010 – III-1 RVs 146/10 -; OLG Hamburg VRS 101, 106 = NStZ 2001, 655). Die tatrichterliche Wertung ist „bis zur Grenze des Vertretbaren“ hinzunehmen (OLG Frankfurt StV 2007, 471).
Die Angeklagte bezog nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen Leistungen „nach Hartz IV“, d. i. Arbeitslosengeld II gemäß § 20 SGB II. Mangels entgegen-stehender Feststellungen und insbesondere mangels abweichenden Vortrags in der Revisionsbegründung ist dabei davon auszugehen, dass die Angeklagte den Regelsatz bezog. Dieser betrug bis zum 1. Januar 2011 gemäß § 20 Abs. 1 SGB II 345,00 € und seither nach § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II 364,00 €.
Da der Tagessatz in der Regel nach dem Tages-Nettoeinkommen des Täters zu berechnen ist (§ 40 Abs. 2 S. 2 StGB), ist schon auf der Grundlage der festgestellten Bezüge der Angeklagten gegen eine Festsetzung des Tagessatzes mit 10,00 € im Grundsatz nichts zu erinnern. Ob die Angeklagte über den Regelsatz hinaus weitere berücksichtigungsfähige Transferleistungen – wie etwa Mietbeihilfen oder Beihilfen zu Energiekosten – erhält, wozu das Tatgericht keine Feststellungen getroffen hat, ist daher unerheblich.
Allerdings kann es bei Angeklagten, die von Bezügen am Rande des Existenzminimums leben, geboten sein, unter Berücksichtigung der nach § 42 StGB möglichen, zeitlich grundsätzlich nicht beschränkten Zahlungserleichterungen und unter Beachtung der Notwendigkeit der Wahrung der Strafe als ernsthaft fühlbares Übel die Tagessatzhöhe unterhalb eines Dreißigstels der monatlichen, sich aus Geldzahlungen und etwaigen Sachmittelzuwendungen zusammensetzenden Bezüge festzusetzen (SenE v. 30.10.2007 – 82 Ss 123/07 -; SenE v. 24.03.2009 – 83 Ss 13/09 -; SenE v. 03.04.2009 – 82 Ss 12/09 -; SenE v. 08.06.2010 – III-1 RVs 70/10 -; SenE v. 13.08.2010 – III-1 RVs 146/10 -; OLG Hamburg VRS 101, 106 = NStZ 2001, 655; Fischer, StGB, 57. Auflage 2011, § 40 Rz. 11a). Dem Angeklagten muss in jedem Fall das täglich zum Lebensbedarf Unerlässliche erhalten bleiben (SenE v. 08.06.2010 – III-1 RVs 70/10 -; 471; OLG Frankfurt B. v. 26.02.2010 – 1 Ss 425/08 – = BeckRS 2010, 20569 – zitiert nach Juris [Rz. 11]; OLG Frankfurt StV 2007, KG B. v. 10.08.2007 – 1 Ss 205/06 – = BeckRS 2007, 16968; KG StV 2005, 89; OLG Düsseldorf NJW 1994, 744; OLG Stuttgart NJW 1994, 754; OLG Köln StV 1993, 336; OLG Celle NStZ-RR 1998, 272 u. NStZ-RR 1999, 213).
Der Begriff des zum Lebensbedarf Unerlässlichen entstammt dem Recht der Sozialhilfe, § 26 Abs. 2 SGB XII. Er wird dort mit einem – zwischen 70 und 80% angesiedelten – Bruchteil des jeweiligen Regelsatzes bestimmt (VGH München, FEVS 45, 102 = NVwZ-RR 1994, 398 – zitiert nach Juris [70%]; OVG Bremen FEVS 37, 471 – zitiert nach Juris [80%]; Conradis, in: NomosKommentar SHB XII, § 26 Rz. 9; Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 26 Rz. 6). Der Regelsatz für einen Haushaltsvorstand bzw. für Alleinstehende beträgt in Nordrhein-Westfalen nach § 1 der Verordnung über Regelsätze der Sozialhilfe vom 09.07.2009 (GV NW S. 335) 359,00 €. Bestimmt man nun das für den Lebensbedarf Unerlässliche mit einem Mittelwert von 75% hiervon (so Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 26 Rz. 6), errechnet sich ein Betrag von 269,26 €, der dem Angeklagten monatlich jedenfalls verbleiben muss. Die Differenz zum Regelsatz von 345,00 € beträgt damit 75,74 € monatlich bzw. 2,52 € täglich. Auch nach der Rechtsprechung derjenigen Oberlandesgerichte, von denen die Tagessatzhöhe nach dem Drei- bis Vierfachen des Differenzbetrags zwischen bezogener Leistung und Unerlässlichem berechnet wird (OLG Frankfurt B. v. 26.02.2010 – 1 Ss 427/08 – zitiert nach Juris Rz. 11; OLG Frankfurt StV 2007, 470; OLG Stuttgart NJW 1994, 745), ist daher unter Berücksichtigung des tatrichterlichen Ermessens ein Tagessatz in Höhe von 10,00 € nicht zu beanstanden.
Der Angeklagten sind allerdings zur Durchsetzung des Grundsatzes, dass ihr das zum Lebensunterhalt Unerlässliche verbleiben muss, Zahlungserleichterungen gemäß § 42 StGB zu gewähren (vgl. insgesamt noch KG B. v. 10.08.2007 – 1 Ss 205/06 = BeckRS 2007 16968). Die insoweit festzusetzenden Raten bemisst der Senat auf monatlich 35,00 €. In entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO kann er insoweit in der Sache selbst entscheiden; einer Zurückverweisung nur zur Festsetzung der Zahlungserleichterungen bedarf es nicht (st. Senatsrechtsprechung, vgl. nur SenE v. 08.06.2010 – III-1 RVs 70/10).“
Das OLG betont, dass die Bemessung der Tagessatzhöhe einer Geldstrafe nicht schematisch erfolgen kann, sondern je nach Einzelfall betrachtet werden muss. Dies ergebe sich bereits aus § 40 Abs. 2 S. 2 StGB. Grundsätzlich kann auch bei einer Empfängerin von Sozialleistungen ein Tagessatz von 10 Euro angemessen sein. Allerdings ist einem Angeklagten immer das „zum Lebensbedarf Unerlässliche“ zu belassen. Daher hat das OLG festgestellt, dass hier Zahlungserleichterungen gemäß § 42 StGB anzuordnen sind. Die Raten hat der Senat auf monatlich 35 Euro festgesetzt.