informationelle Selbstbestimmung

  • Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 1. Senat, Urteil vom 2. März 2010
    Az. 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08

    In einem der spektakulärsten Urteile der vergangenen Jahre hatte sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erneut mit der so genannten „Vorratsdatenspeicherung“ zu befassen. Diese beruht auf die EU Richtlinie 2006/24/EG und trägt das Ziel der Speicherung von Verkehrsdaten von Telefondiensten und Internetdiensten wie auch E-Mails vorsorglich für mindestens 6 Monate, um so der Verfolgung von (schweren) Straftaten und der Gefahrenabwehr zu dienen.

    Den drei (von fast 35.000 Beschwerdeführern) ausgewählten Musterfällen nahm sich das Bundesverfassungsgericht an. Die Beschwerdeführer sehen nach ihrer Ansicht durch die Vorratsdatenspeicherung vor allem das Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) sowie ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. So sei es unverhältnismäßig, sämtliche Daten dergestalt zu speichern, dass sich dadurch auch Persönlichkeits- und Bewegungsprofile erstellen lassen.

    Der Erste Senat des BVerfG hatte sodann am 2. März 2010 sein Urteil bekannt gegeben und entschieden, dass die derzeitigen Regelungen des TKG und der StPO im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Abs. 1 GG nicht vereinbar seien.

    So ist die Vorratsdatenspeicherung zwar grundsätzlich möglich und nicht schlechthin verfassungswidrig, jedoch in der derzeitigen Konstellation und insbesondere in der dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgestaltung nicht verfassungsmäßig. Auch wird durch die angegriffenen Regelungen keine hinreichende Datensicherheit und Datenbegrenzung gewährleistet. Laut Bundesverfassungsgericht „genügen sie nicht in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Transparenz und Rechtschutzforderungen“.

    Weiter hat das BVerfG angedeutet, dass es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um einen besonders schweren Eingriff handelt mit einer „Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Aus den Daten lassen sich „bis in die Intimsphäre hineinreichende inhaltliche Rückschlüsse ziehen“, die für sich genommen das aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG entwickelte Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzten. Schließlich hat jeder Bürger grundsätzlich das Recht, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.

    Allerdings ist eine Speicherung der Verkehrsdaten unter bestimmten Maßgaben mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar, wie das BVerfG im Weiteren ausführt. Hierzu müssen allerdings erst bestimmte Grundlagen und Vorgaben geschaffen werden. Angedeutet wird diesbezüglich unter anderem die Speicherung der Verkehrsdaten durch Dritte (wie private Diensteanbieter), um auch der Staatsferne Rechnung zu tragen. Auch dürfen die vielen Informationen nicht zusammengeführt und bei der Speicherung als „Ganzes“ gesammelt werden. Letztlich müsse so eine bessere Sicherheit für die Aufbewahrung der Daten gewährleistet werden.

    Im Rahmen der Strafprozessordnung ist es notwendig, den Abruf der Daten unter einen grundsätzlichen Richtervorbehalt zu stellen, um so auch nachträglich im gerichtlichen Verfahren die Anordnung überprüfen zu lassen. Wichtig sei auch hier nach Auffassung des BVerfG das Gebot der Transparenz: Der Betroffene müsse darüber informiert werden, wenn und wann seine Daten verwendet und abgerufen werden. Zur Not auch im Rahmen einer nachträglichen Kenntnisnahme. Bezüglich der Anwendung der Vorratsdatenspeicherung zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr darf auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht außer Acht gelassen werden.

    Nach der derzeitigen Ausgestaltung ist das Abrufen der gespeicherten Daten zur Strafverfolgung „praktisch im Bezug auf alle Straftatbestände nutzbar“ und wodruch ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorliegt.

    Auszug aus der Pressemitteilung des BVerfG vom 2. März 2010:

    „Mit den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entwickelten Maßstäben unvereinbar sind auch die Regelungen zur Verwendung der Daten für die Strafverfolgung. § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO stellt nicht sicher, dass allgemein und auch im Einzelfall nur schwerwiegende Straftaten Anlass für eine Erhebung der entsprechenden Daten sein dürfen, sondern lässt unabhängig von einem abschließenden Katalog generell Straftaten von erheblicher Bedeutung genügen. Erst recht bleibt § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StPO hinter den verfassungsrechtlichen Maßgaben zurück, indem er unabhängig von deren Schwere jede mittels Telekommunikation begangene Straftat nach Maßgabe einer allgemeinen Abwägung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als möglichen Auslöser einer Datenabfrage ausreichen lässt. Mit dieser Regelung werden die nach § 113a TKG gespeicherten Daten praktisch in Bezug auf alle Straftatbestände nutzbar. Ihre Verwendung verliert damit angesichts der fortschreitenden Bedeutung der Telekommunikation im Lebensalltag ihren Ausnahmecharakter. Der Gesetzgeber beschränkt sich hier nicht mehr auf die Verwendung der Daten für die Verfolgung schwerer Straftaten, sondern geht hierüber und damit auch über die europarechtlich vorgegebene Zielsetzung der Datenspeicherung weit hinaus“.

    Für die Strafverfolgung bedeutet es, dass die Verwendung der Daten der Vorratsdatenspeicherung nur dann zulässig ist, wenn im Einzelfall der Verdacht einer schwerwiegenden Straftat besteht. Hierfür sind enge Grenzen zu ziehen und hat der Gesetzgeber einen Strafkatalog zu schaffen. Im Hinblick auf die Gefahrenabwehr bedeutet dieses, dass eine hinreichend belegte, konkrete Gefahr für ein hohes Rechtsgut wie „Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes zur Abwehr einer gemeinen Gefahr“ vorliegen muss.

    Auszug aus der Pressemitteilung:

    „Für die Strafverfolgung folgt hieraus, dass ein Abruf der Daten zumindest den durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer auch im Einzelfall schwerwiegenden Straftat voraussetzt. Welche Straftatbestände hiervon umfasst sein sollen, hat der Gesetzgeber abschließend mit der Verpflichtung zur Datenspeicherung festzulegen.

    Für die Gefahrenabwehr ergibt sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass ein Abruf der vorsorglich gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten nur bei Vorliegen einer durch bestimmte Tatsachen hinreichend belegten, konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr zugelassen werden darf. Diese Anforderungen gelten, da es auch insoweit um eine Form der Gefahrenprävention geht, gleichermaßen für die Verwendung der Daten durch die Nachrichtendienste. Eine Verwendung der Daten von Seiten der Nachrichtendienste dürfte damit freilich in vielen Fällen ausscheiden. Dies liegt jedoch in der Art ihrer Aufgaben als Vorfeldaufklärung und begründet keinen verfassungsrechtlich hinnehmbaren Anlass, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Voraussetzungen für einen Eingriff der hier vorliegenden Art abzumildern.“

    Letztlich resultiert aus dem Urteil und der zukünftigen Neugestaltung der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bezüglich der strafprozessualen Regelungen:

    „Innerhalb des ihm dabei zustehenden Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber solche Auskünfte auch unabhängig von begrenzenden Straftaten oder Rechtsgüterkatalogen für die Verfolgung von Straftaten, für die Gefahrenabwehr und die Aufgabenwahrnehmung der Nachrichtendienste auf der Grundlage der allgemeinen fachrechtlichen Eingriffsermächtigungen zulassen. Hinsichtlich der Eingriffsschwellen ist allerdings sicherzustellen, dass eine Auskunft nicht ins Blaue hinein eingeholt wird, sondern nur aufgrund eines hinreichenden Anfangsverdachts oder einer konkreten Gefahr auf einzelfallbezogener Tatsachenbasis erfolgen darf. Ein Richtervorbehalt muss für solche Auskünfte nicht vorgesehen werden; die Betreffenden müssen von der Einholung einer solchen Auskunft aber benachrichtigt werden. Auch können solche Auskünfte nicht allgemein und uneingeschränkt zur Verfolgung oder Verhinderung jedweder Ordnungswidrigkeiten zugelassen werden. Die Aufhebung der Anonymität im Internet bedarf zumindest einer Rechtsgutbeeinträchtigung, der von der Rechtsordnung auch sonst ein hervorgehobenes Gewicht beigemessen wird. Dies schließt entsprechende Auskünfte zur Verfolgung oder Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten nicht vollständig aus. Es muss sich insoweit aber um auch im Einzelfall besonders gewichtige Ordnungswidrigkeiten handeln, die der Gesetzgeber ausdrücklich benennen muss.“

    Insgesamt und trotz der scharfen Kritik an der konkreten Ausgestaltung der Regelung der Vorratsdatenspeicherung scheint diese aber in Zukunft durch eine Überarbeitung der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Erwägungen des BVerfG denkbar und wohl auch realistisch. Doch bis es so weit ist, wird der Gesetzgeber das Urteil und zusätzliche Erläuterungen abzuwarten und in den Prozess der gesetzlichen Neugestaltung einzubringen haben. Außerdem hat die EU bereits angekündigt, die entscheidende Richtlinie als Vorgabe der nationalen Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung erneut zu überprüfen und gegebenenfalls und unabhängig von nationalen Umsetzungsspielräumen nachzubessern.

    Somit sind viele weitere Szenarien denkbar. Eines steht jedoch bereits jetzt fest: Die Vorratsdatenspeicherung wird es wohl auch in naher Zukunft geben und den Zielen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr dienen.

  • BVerfG, 2 BvR 941/08 vom 11.8.2009

    Das Bundesverfassungsgericht hatte im vorliegenden Fall über die Rechtmäßigkeit einer Video-Überwachung durch das Verkehrskontrollsystems Typ VKS zu entscheiden. Der Beschwerdeführer wurde im Januar 2006 auf der BAB 19 durch das VKS System im Rahmen einer Geschwindigkeitsmessung  aufgenommen und rügt infolge dessen diese Aufzeichnung, die ein Eingriff in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung darstellt.

    Zudem war die Rechtsgrundlage des Eingriffes zu prüfen, auf die sich die zuständige Stelle in dem Bußgeldverfahren gegen den Beschwerdeführer berief. So hatte das Amtsgericht „im angefochtenen Urteil die mittels einer Videoaufzeichnung vorgenommene Geschwindigkeitsmessung auf den Erlass zur Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern vom 1. Juli 1999 (Az.: V 652.621.5-2-4) gestützt und damit diesen als Rechtsgrundlage für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung herangezogen“.

    Hierzu stellten die Richter des BVerfG fest:

    „In der vom Beschwerdeführer angefertigten Videoaufzeichnung liegt ein Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Recht umfasst die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, und daher grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1 <42 f.>). Durch die Aufzeichnung des gewonnenen Bildmaterials wurden die beobachteten Lebensvorgänge technisch fixiert. Sie konnten später zu Beweiszwecken abgerufen, aufbereitet und ausgewertet werden. Eine Identifizierung des Fahrzeuges sowie des Fahrers war beabsichtigt und technisch auch möglich. Auf den gefertigten Bildern sind das Kennzeichen des Fahrzeuges sowie der Fahrzeugführer deutlich zu erkennen. Das Amtsgericht hat im angegriffenen Urteil ebenfalls festgestellt, dass ausreichende Konturen auf den Bildern vorhanden sind, und den Beschwerdeführer als die abgebildete Person identifiziert. Dass die Erhebung derartiger Daten einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 -, Umdruck, S. 26; BVerfGE 120, 378 <397 ff.>; BVerfGK 10, 330 <336 f.>).“

    So sei zwar eine solche Video-Überwachung im Verkehrsrecht nicht generell unzulässig, jedoch stellt die Rechtsgrundlage des herangezogenen Erlasses des Wirtschaftministeriums Mecklenburg-Vorpommern keine geeignete Rechtsgrundlage für einen derartigen Eingriff dar:

    „Eine solche Rechtsauffassung ist verfehlt und unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar. Es handelt sich bei dem Erlass – ausweislich der einleitenden Bemerkung – um eine Verwaltungsvorschrift und damit um eine verwaltungsinterne Anweisung. Derartige Regelungen, durch die eine vorgesetzte Behörde etwa auf ein einheitliches Verfahren oder eine einheitliche Gesetzesanwendung hinwirkt, stellen kein Gesetz im Sinn des Art. 20 Abs. 3 sowie des Art. 97 Abs. 1 GG dar und sind grundsätzlich Gegenstand, nicht Maßstab der richterlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 78, 214 <227> [BVerfG 31.05.1988 – 1 BvR 520/83]). Eine Verwaltungsvorschrift kann für sich auch keinen Eingriff in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung rechtfertigen, da es einer formell-gesetzlichen Grundlage bedarf. Der parlamentarische Gesetzgeber hat über einen derartigen Eingriff zu bestimmen und Voraussetzungen sowie Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar festzulegen (vgl. BVerfGE 65, 1 <44>)“

    Aus diesem Grund verwiesen die Richter die Klage zurück an das zuständige Amtsgericht zur erneuten Entscheidung. Die Verfassungsbeschwerde war im Übrigen unzulässig.

    Es bleibt jedoch abzuwarten, ob eine eigenständige Rechtsgrundlage für eine solche Video-Überwachung im Straßenverkehr in Zukunft geschaffen wird und wie die Gerichte dann zu entscheiden haben.

    Das vollständige Urteil findet sich auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts.

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