Fortdauer der Untersuchungshaft wegen „derselben Tat“ im Sinne von § 121 I StPO

Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16.11.2010, Az.: 1 Ws 446/10 (32)

Der Angeschuldigte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Gera vom 12.05.2010, der durch den erweiterten Haftbefehl des Amtsgerichts Gera vom 27.05.2010 ersetzt wurde, seit dem 12.05.2010 in dieser Sache in Untersuchungshaft, zurzeit in der Justizvollzugsanstalt Gera.
In dem Haftbefehl vom 12.05.2010 wurde dem Angeschuldigten zur Last gelegt, entgegen einer Weisung zu einem damals 12-jährigen Kind Kontakt aufgenommen und ihn dabei auch angefasst zu haben. Er war zuvor wegen sexueller Missbrauch von Kindern in 22 Fällen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden.
In dem Haftbefehl vom 27.05.2010 wurden dem Angeklagten vier weitere Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs zur Last gelegt. Als Haftgründe nahm das Amtsgericht – wie zuvor – eine Flucht- und Verdunklungsgefahr an.
Die Staatsanwaltschaft erhob sodann Anklage zum Landgericht Gera. Gegenstand der Anklage sind neben den bereits im Haftbefehl vom 27.05.2009 genannten Taten 72 Taten des Erwerbs kinderpornographische Schriften und 179 Taten der Verbreitung kinderpornografischer Schriften. Dabei wird ihm vorgeworfen kinderpornografisches Bildmaterial über das Internet ausgetauscht zu haben. Das Landgericht hat sodann wegen sämtlicher angeklagter Taten Untersuchungshaft angeordnet. Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht die weitere Untersuchungshaft gemäß § 121 I StPO für erforderlich erklärt und die Vorlage der Akten zur besonderen Haftprüfung an das Thüringer Oberlandesgericht veranlasst.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft vertritt die Auffassung, dass eine Entscheidung des Senats über die Haftfortdauer derzeit noch nicht veranlasst sei.

Aus dem Beschluss des OLG:

„Was unter „derselben Tat“ im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO zu verstehen ist, hat das Gesetz nicht definiert. In Rechtsprechung und Schrifttum besteht jedoch Einigkeit dahin, dass sie nicht mit dem Tatbegriff des § 264 StPO gleichgesetzt werden kann. Eine solche Auslegung würde dem Schutzzweck des § 121 StPO nicht gerecht werden, weil dies die Möglichkeit einer Reservehaltung von Tatvorwürfen ermöglichen würde (siehe etwa Senatsbeschluss vom 25.02.2010, 1 Ws 51/10, m.w.N.). Dann könnten nämlich fortlaufend neue Tatvorwürfe nachgeschoben und ein bestehender Haftbefehl jeweils ergänzt werden mit der Folge, dass die Frist nach § 121 Abs. 1 StPO immer wieder von Neuem beginnen würde. Ein solcher Missbrauch ist nach dem Schutzzweck der Vorschrift zu verhindern (Senatsbeschluss wie oben). Nach überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur fallen unter den Begriff „derselben Tat“ im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO alle Taten eines Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in den bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Die Frist beginnt mithin nicht erneut zu laufen, sobald die Untersuchungshaft aufgrund eines neuen oder erweiterten Haftbefehls vollzogen wird, wenn dieser lediglich Tatvorwürfe enthält, die bereits im Sinne eines dringenden Tatverdachts bei Erlass des früheren Haftbefehls bekannt waren. Wird dagegen erst nach Erlass des früheren Haftbefehls eine neue Tat – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Frist von 6 Monaten in Gang gesetzt. Fristbeginn ist in diesem Fall der Zeitpunkt, ab dem wegen des neuen Tatvorwurfs erstmals die Voraussetzungen zu dem Erlass oder die Erweiterung eines Haftbefehls vorgelegen haben (siehe Senatsbeschluss wie oben). Unter Berücksichtigung dieser Kriterien handelt es sich bei den Taten der Verbreitung und des Erwerbs kinderpornografischer Schriften (Nr. 6 – 256 des Haftbefehls vom 26.10.2010) nicht um ‚dieselbe Tat‘ wie die in dem Haftbefehl vom 27.05.2010 beschriebene Tat. Zwar hat sich der dringende Tatverdacht in Bezug auf die Verbreitung und den Erwerb kinderpornografischer Schriften tatsächlich erst nach Vorliegen des Auswertungsberichts der Kriminalpolizeiinspektion Gera vom 05.07.2010, der aufgrund der Auswertung der Daten auf dem Laptop des Beschuldigten durch die Kriminalpolizeiinspektion Gotha erstellt wurde, ergeben. Bei der gebotenen Beschleunigung der Auswertung hätten diese die Erweiterung des Haftbefehls um die Vorwürfe der Verbreitung und des Erwerbs kinderpornografischer Schriften aber bereits wesentlich früher, nämlich spätestens im Zeitpunkt des Erlasses des erweiterten Haftbefehls vom 27.05.2010 des Amtsgerichts Gera vorgenommen werden können.“

„Insgesamt ist das Verfahren bisher mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden, sodass die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus gerechtfertigt ist.“

Das OLG hatte folglich zu klären, ob es sich bei dem sexuellen Missbrauch und beim Erwerb bzw. der Verbreitung kinderpornographischer Schriften um dieselbe Tat im Sinne von § 121 I StPO handelt. Dabei hat das OLG den Gesetzeszweck zugrunde gelegt. Nach Auffassung des Gerichts kommt es darauf an, wann die Taten eines Beschuldigten hätten bekannt werden können und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können. Ob es sich dabei um ein Verfahren handelt, sei irrelevant. Da die weiteren Taten hier nicht früher hätten bekannt werden können und da  das OLG das Vorliegen von Haftgründen bejaht hat, wurde die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.


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