Fehlerhafte Feststellungen zur Leistungsfähigkeit bei Unterhaltspflichtverletzung (§ 170 StGB)

Durch Urteil des Amtsgericht Diepholz ist rechtskräftig festgestellt worden, dass der Angeklagte Vater des 2005 geborenen Kindes J.K. und unterhaltspflichtig ist. Dieser Pflicht kam er nicht nach, obwohl er vom 19. Juli 2007 bis Mitte Juni 2008 auf einer Großbaustelle in Dänemark arbeitete.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Verletzung der Unterhaltspflicht zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Gegen diese Entscheidung legte der Angeklagte zunächst Berufung ein.

Nach den Feststellungen des Landgerichts Verden lebt der Angeklagte, der als Tischler monatliche Einkünfte von derzeit etwa 1.600 Euro erzielt, seit 2005 in einer festen Beziehung mit seiner Lebensgefährtin. Aus dieser Verbindung sind zwei Kinder im Alter von knapp zwei und vier Jahren hervorgegangen. Der Angeklagte selbst hielt sich aus diesen Gründen für nicht leistungsfähig, insbesondere seien ihm durch die Fahrkosten und der doppelten Haushaltsführung allenfalls 900 Euro monatlich verblieben.

Demgegenüber ist das Berufungsgericht von einer Leistungsfähigkeit des Angeklagten zumindest in dem Zeitraum zwischen August 2007 bis Ende Mai 2008 ausgegangen. Zumindest die nach Abzug der Aufwendungen verbleibenden 600 Euro monatlich habe der Angeklagte anteilig auf seine drei unterhaltsberechtigten Kinder verteilen müssen. Daher hat das Gericht die vorsätzliche Verwirklichung des Tatbestandes nach § 170 StGB angenommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision. Dazu das OLG:

Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge hin – zumindest vorübergehend – Erfolg. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen die Annahme der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit des Angeklagten in dem der Verurteilung zugrunde gelegten Zeitraum von Anfang August 2007 bis Ende Mai 2008 und damit den Schuldspruch wegen Verletzung der Unterhaltspflicht gemäß § 170 StGB nicht im erforderlichen Umfang. Zudem stellt das angefochtene Berufungsurteil weder die Höhe des Unterhaltsbedarfs von J. K. noch die Leistungsfähigkeit des Angeklagten im Hinblick auf einen geschuldeten Barunterhalt gegenüber seinem leiblichen Kind in der gebotenen Weise dar, die dem Senat eine Überprüfung der vom Tatrichter für die Annahme der Leistungsfähigkeit zugrunde gelegten unterhaltsrechtlich relevanten Verhältnisse des Angeklagten ermöglicht.

Diesen Anforderungen an die erforderlichen Feststellungen zu der Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten und zu der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten sowie an den Umfang einer Darlegung der Beurteilungsgrundlagen für das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Vor allem hat das Tatgericht keine ausreichenden Feststellungen über die Leistungsfähigkeit des Angeklagten getroffen und die Grundlagen seiner Beurteilung der angenommenen Leistungsfähigkeit nicht hinreichend dargelegt.

Dazu hat das OLG Celle ausgeführt, dass es erforderlich gewesen wäre, die Kosten – also die berufsbedingten Aufwendungen – genau festzustellen. Insbesondere müssen auch Fahrkosten bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen berücksichtigt werden.

Zwar wird bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Unterhaltsverpflichteten als Element der gesetzlichen Unterhaltspflicht bei der Ermittlung des unterhaltsrechtlich relevanten Einkommens in der Rechtsprechung der Familiensenate regelmäßig von einem Bruttojahreseinkommen ausgegangen, bei dem nicht monatlich anfallende Leistungen (etwa Weihnachtsgeld) auf das gesamte Jahr umgelegt werden (vgl. Strohal in: Göppinger/Wax, Unterhaltsrecht, Rn. 513 m. w. N.; siehe auch OLG Koblenz NStZ 2005, 640, 641 Rn. 6 m. w. N.). Allerdings wird auch in der unterhaltsrechtlichen Rechtsprechung der Familiengerichte eine Aufspaltung in geringere Zeiträume, für die der Unterhalt jeweils getrennt festzulegen ist, vorgenommen, wenn innerhalb des Regelzeitraums von einem Jahr erhebliche Schwankungen und Veränderungen der für die Leistungsfähigkeit bedeutsamen Verhältnisse bei abhängig Beschäftigten (etwa Wechsel von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit) zu verzeichnen sind (siehe nur Strohal, in: Göppinger/Wax, Unterhaltsrecht, Rn. 513 m. w. N.). Die obergerichtliche Rechtsprechung der Strafgerichte ist hingegen nicht einheitlich, soweit es um den der Bewertung der Leistungsfähigkeit zugrunde zu legenden Zeitraum und die Notwendigkeit geht, ein durchschnittliches Einkommen für einen Zeitraum zugrunde zu legen, in dem nur teilweise Einkommen erzielt wurde oder in dem die Höhe des Einkommens schwankte (siehe die Nachw. bei OLG Koblenz NStZ 2005, 640, 641 Rn. 6 und 7). Insbesondere das OLG Koblenz (a. a. O. Rn. 8) hält unter Bezugnahme auf den in der familiengerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Gedanken des sog. Nachholbedarfs des Unterhaltsschuldners die Bemessung der Leistungsfähigkeit bei wechselnden Einkommenshöhen eines abhängig Beschäftigten regelmäßig auf der Grundlage eines über einen längeren Zeitraums erreichten Durchschnittseinkommens für erforderlich. Wie lang dieser „längere Zeitraum“ zu bemessen ist, bestimme sich nach den Besonderheiten des Einzelfalles (a. a. O.). Die Maßgeblichkeit eines auf einen längeren Zeitraum bezogenen Durchschnittseinkommens soll die Tatgerichte aber nicht der Pflicht entheben, die Einkommensverhältnisse des Unterhaltsschuldners für jeden einzelnen Monate unter Einschluss der Gründe für die Veränderungen bei den Einkommenshöhen festzustellen (a. a. O. Rn. 9). Bei wechselnden Einkommensverhältnissen hält auch das OLG Hamm (NStZ 2008, 342, 343) die Beurteilung der Leistungsfähigkeit auf einen größeren Zeitraum bezogen für geboten. Demgegenüber halten andere Oberlandesgerichte die Bewertung der Leistungsfähigkeit bei wechselnden Einkommen auf der Grundlage einer Durchschnittsrechnung für nicht sachgerecht (OLG Schleswig OLGSt StGB § 170b (a. F.) Nr. 4; vgl. auch OLG Celle StV 2001, 349). Auch die Strafrechtswissenschaft wendet sich gegen pauschale Durchschnittsberechnungen (etwa Lenckner/Bosch, in: Schönke/Schröder, § 170 Rn. 22; Ritscher, in: Münchener Kommentar zum StGB, § 170 Rn. 46).

Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit über einen längeren Zeitraum nach Durchschnittsätzen trägt dem Schutzzweck von § 170 StGB, der vorrangig dem Schutz des Unterhaltsberechtigten vor der Gefährdung seines materiellen Lebensbedarfs dient (Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., 2010, § 170 Rn. 1 m. w. N.), nicht genügend Rechnung. Letztlich würde eine Beurteilung nach Durchschnittssätzen zu einer weitgehend fiktiven Bestimmung der Einkünfte und Belastungen des Unterhaltsschuldners führen, die seine tatsächliche Lebenssituation in dem Moment in dem die monatlich geschuldete Unterhaltspflicht zu erbringen ist, nicht erfasst. Umgekehrt braucht sich der Unterhaltsberechtigte nicht darauf verweisen zu lassen, dass Unterhalt selbst temporär nicht zu zahlen wäre, obwohl der Schuldner zeitweilig über ausreichende Mittel verfügt, nur weil es für seinen Anspruch auf ein Durchschnittseinkommen über einen – unbestimmten – längeren Zeitraum ankäme. Darüber hinaus eröffnet das Abstellen auf einen nach den Besonderheiten des Einzelfalls zu bestimmenden „längeren Zeitraum“ die Gefahr einer Verletzung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes. Denn die gesetzliche Unterhaltspflicht wird von Voraussetzungen abhängig gemacht, die der Unterhaltsverpflichtete im Zeitpunkt der von ihm geforderten Zahlungspflicht nicht verlässlich beurteilen kann. Der Zeitraum soll nachträglich – und aus Sicht der Betroffenen beliebig – überprüft werden und dies ist mit dem Bestimmtheitsgebot nicht zu vereinbaren.

Das Landgericht ist den Anforderungen nicht nachgekommen. Vielmehr hätten in dem strafrechtlichen Verfahren die Unterhaltspflicht und insbesondere die Höhe selbstständig geprüft werden müssen. Zwar könne sich das Strafgericht auf die Feststellungen der Familiengerichte berufen, müssen diese aber zumindest überprüfen. Gibt es hingegen (noch) keine familengerichtlichen Feststellungen, so ist das Strafgericht gehalten, alle erforderlichen Feststellungen selbst zu treffen. Anderenfalls – wie im vorliegenden Fall – könne eine Verurteilung nach § 170 StGB nicht erfolgen, da die Voraussetzungen nicht geprüft werden können.

Anmerkung: An den Anforderungen der eigenen rechtlichen Würdigung und der Notwendigkeit eigener Tatsachenfeststellungen scheitern die Instanzengerichte regelmäßig. Es reicht für das Strafgericht nicht aus, lediglich die Auffassung der Zivilgerichte zu übernehmen. Nicht nur beim Tatvorwurf der Unterhaltspflichtverletzung gem. § 170 StGB sondern auch z.B. bei der Abgabe einer falschen Versicherung an Eides statt werden zivilrechtliche Vorgaben häufig ungeprüft übernommen und führen häufig zur Aufhebung des Urteils in der Revision bzw. in der Sprungrevision.

OLG Celle, Beschluss vom 19.04.2011, Az.: 32 Ss 37/11

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