BVerfG Beschluss vom 23. Juni 2010, Az. 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nahm sich drei Verfassungsbeschwerden eines in drei miteinander verbundenen Verfahrens an und hat am 23. Juni 2010 über die „Anwendung und Auslegung des Tatbestandes der Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG entschieden“. Die Pressemitteilung sowie die Urteilsbegründung wurden vor kurzem veröffentlicht und geben einen Einblick in die Begründung.
Die Beschwerdeführer sind wegen Untreue nach § 266 StGB verurteilt worden. Diese bestätigte der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Schuldspruch.
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um einen Bereichsvorstand der Siemens AG, einem damaligen Vorstand einer Betriebskrankenkasse sowie um Vorstandsmitglieder der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG. Im ersten Verfahren wurden Gelder aus „schwarzen Kassen“ zur Bestechung in mehreren Fällen verwendet. Im zweiten Verfahren schädigte das Vorstandsmitglied das Vermögen der Betriebskrankenkasse dadurch, dass er Angestellten über Jahre neben dem Gehalt und bezahlten Überstunden weitere Prämien bewilligte und sich so über seinen Entscheidungsspielraum hinwegsetze. Im dritten Verfahren Wurde dem Vorstandsmitglied zu Last gelegt, „unter Verletzung ihrer der Bank gegenüber bestehenden Informations- und Prüfungspflichten einen unzureichend gesicherten Kredit für die Anschaffung und Modernisierung von Plattenbauwohnungen über knapp 20 Mio. DM bewilligt und ausgezahlt zu haben.“
Die Verfassungsbeschwerden in den ersten beiden Fällen wurden zurückgewiesen, die Verfassungsbeschwerde im dritten Verfahren hatte jedoch Erfolg. Der Beschluss des BGH sowie das Urteil des Landgerichts Berlin wurden dadurch aufgehoben und die Sache an das LG Berlin zurückverwiesen.
In der Begründung verweisen die Richter des Bundesverfassungsgerichts auf die verfassungsrechtlichen Bedenken der Weite der Strafnorm der Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG.
Auszug aus der Urteilsbegründung:
“Für den Gesetzgeber enthält Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Funktion als Bestimmtheitsgebot dementsprechend die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 75, 329 <340 f.>). Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, dass der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen (vgl. BVerfGE 101, 1 <34>; 108, 282 <312>) und dass er Rechtsvorschriften so genau fassen muss, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (Grundsatz der Normenklarheit, vgl. BVerfGE 93, 213 <238>), gelten danach für den besonders grundrechtssensiblen Bereich des materiellen Strafrechts besonders strikt. Das Bestimmtheitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht (vgl. BVerfGE 48, 48 <56 f.>; 92, 1 <12>).“
Der Rechtsprechung sei demnach gehalten, „verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot)“. Jedoch ist nach Auffassung des Senats der Untreuetatbestand hiermit noch zu vereinbaren:
Auszug aus der Pressemitteilung des Beschlusses vom 11. August 2010:
„Der Untreuetatbestand ist mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG noch zu vereinbaren. Zwar hat das Regelungskonzept des Gesetzgebers – im Interesse eines wirksamen und umfassenden Vermögensschutzes – zu einer sehr weit gefassten und verhältnismäßig unscharfen Strafvorschrift geführt. § 266 Abs. 1 StGB lässt jedoch das zu schützende Rechtsgut ebenso klar erkennen wie die besonderen Gefahren, vor denen der Gesetzgeber dieses mit Hilfe des Tatbestandes bewahren will. Der Untreuetatbestand lässt eine konkretisierende Auslegung zu, die die Rechtsprechung in langjähriger Praxis umgesetzt und die sich in ihrer tatbestandsbegrenzenden Funktion grundsätzlich als tragfähig erwiesen hat.“
Hiervon ausgehend ist in der Auslegung im dritten Verfahren gegen die Vorstände der Berlin-Hannoverschen Hypothekenbank AG der Tatbestand der Untreue nach §266 Abs. 1 StGB nicht erfüllt.
Das Landgericht Berlin sah im konkreten Fall einen Gefährdungsschaden, der bereits zum Zeitpunkt der Bewilligung und Auszahlung des Kredits eingetreten sei, da „der durch Auszahlung des Kreditbetrags eingetretenen Vermögensminderung ein gleichwertiger Vermögenszuwachs in Form des Rückzahlungsanspruchs nicht gegenübergestanden habe, soweit die Rückzahlung mangels ausreichend werthaltiger Sicherheiten nicht gewährleistet gewesen sei.“
Die Rechtsfigur des Gefährdungsschadens führt zu einer Überdehnung des Untreuetatbestandes durch eine Gleichsetzung von „gegenwärtigem Schaden und zukünftiger Verlustgefahr“. Der Gefahr, die Strafbarkeit des Untreueversuchs dadurch zu unterlaufen, kann allerdings dadurch entgegen gewirkt werden, indem der Gefährdungsschaden von den Gerichten in „wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise nach anerkannten Bewertungsverfahren und –maßstäben festgestellt“ wird. Sei es durch Hinzuziehung eines Sachverständigen.
Doch gerade dieses ist in dem konkreten Fall nicht erfolgt.
So heißt es in der Pressemitteilung des BVerfG:
“Die Entscheidungen des Landgerichts und des Bundesgerichtshofs verletzen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, weil sie einen Vermögensschaden angenommen haben, obwohl keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende, wirtschaftlich nachvollziehbare Feststellungen zu dem Nachteil getroffen wurden, der durch die pflichtwidrige Kreditvergabe der Beschwerdeführer verursacht worden sein könnte. Dass nach der Bewertung des Bundesgerichtshofs die als Vorstandsmitglieder verantwortlichen Beschwerdeführer ein allzu weites Risiko eingegangen sind, indem sie die Kreditgewährung für das Gesamtkonzept pflichtwidrig unter Vernachlässigung anerkannter deutlicher Risiken und Negierung vielfältiger Warnungen fortsetzten, ersetzt nicht die Feststellung eines konkreten Schadens.“
Folglich hat die Verfassungsbeschwerde der Vorstände Erfolg, in den beiden vorherigen Fällen jedoch nicht. Das Verfahren ist an das LG Berlin zurückverwiesen.