Die Angeklagte wurde vom AG wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Dagegen ging die Angeklagte mit Berufung vor, welche vom LG verworfen wurde. Dazu stellte das LG fest, dass die Angeklagte am Tattag Alkohol in solchen Mengen zu sich genommen habe, dass sie in einen Zustand geriet, der ihre Schuldfähigkeit nicht ausschließbar aufhob. Bei Trinkbeginn sei sich die Angeklagte darüber bewusst gewesen oder habe es wenigstens billigend in Kauf genommen, dass sie in einen solchen Rauschzustand geraten würde. Während des Vollrauschs habe die Angeklagte zwischen 17:45 Uhr und 20:54 Uhr ohne entsprechenden Anlass in insgesamt 54 Fällen die Einsatzzentrale der Polizei über die Notrufnummer 110 angerufen. Sie habe mit den Polizisten reden bzw. die Beamten zu einem Besuch bei sich überreden wollen. Dabei sei sich die Angeklagte darüber bewusst gewesen, dass die Notrufnummer 110 nur in Notsituationen gewählt werden darf. Durch ihr Blockieren der Notrufnummer sei das verlässliche Funktionieren des Notrufs gestört gewesen. Da nicht auszuschließen gewesen sei, dass in einigen Fällen „echte“ Notrufe vorgelegen hätten, hätten die Beamten sämtliche Anrufe der Angeklagte entgegen nehmen müssen.
Hiergegen wandte sich die Angeklagte mit Revision. Der Strafsenat erachtet die Revision als erfolglos. Es sei kein Fehler zum Nachteil der Angeklagten erkennbar.
Aus dem Wortlaut des Beschlusses:
Der Wortlaut des § 145 I Nr. 1 StGB kann dahingehend eingeschränkt werden, dass für den objektiven Tatbestand neben dem grundlosen Anwählen der Notrufnummer und der hierdurch technisch bewirkten Herstellung einer Verbindung zur Notrufzentrale und der nachfolgenden Annahme des Rufs auch ein etwaiger Gesprächsinhalt bzw. die Äußerungen des Anrufers gegenüber dem Diensthabenden und vor allem dessen Bewertung in dem Sinne mit zu berücksichtigen seien, dass erst hierdurch die nach dem Schutzzweck der Norm sowie dem geschützten Rechtsgut von einem ‚Notruf’ vorausgesetzte sog. „Auslösefunktion“ eintreten könne.
Eine missbräuchliche Betätigung der im Tatbestand genannten Notsignale könnte bewirken, dass ohne Grund zum Einsatz gerufene Helfer während dieser Zeit für einen notwendigen Hilfsdienst nicht zur Verfügung stehen und ein Hilfsbedürftiger deshalb ohne sofortige Hilfe bleibt. Vom Schutzzweck der Vorschrift wird jedoch auch erfasst, dass die Funktionsfähigkeit der Anlage, die das Herbeirufen von Hilfe ermöglicht, gesichert bleibt und nicht durch missbräuchliche Inanspruchnahme beeinträchtigt wird. Diese weitere Schutzrichtung wird in § 145 II StGB besonders deutlich, sie liegt aber auch dem § 145 I SGB zugrunde und wird bedeutsam in den Fällen, in denen das Rettungsgerät, ohne dass es unbrauchbar gemacht worden ist, durch eine missbräuchliche Betätigung nicht verwendungsfähig oder -bereit ist.
Von § 145 Abs. 1 StGB sind nur Notrufe im engeren Sinne erfasst, nicht etwa Hilferufe bei harmlosen häuslichen Streitigkeiten zwischen Familienmitgliedern oder Wohnungsnachbarn.
Zum Notruf oder Notzeichen im Sinne des Tatbestandes gehört, dass sie auf eine Notlage und damit zusammenhängend auf das Bedürfnis nach fremder Hilfe oder auf eine erhebliche Gefahr aufmerksam machen. Einem Notruf oder -zeichen kommt diese Eigenschaft dann zu, wenn sie in ihren Voraussetzungen und in der Art der Ausführung durch Gesetz, behördliche Anordnung, Vereinbarung oder Übung im wesentlichen festgelegt sind oder ihren Sinn aus den konkreten Umständen gewinnen.
Die Ausgestaltung der Notrufnummer 110, die mit einem gewöhnlichen Fernsprechanschluss nicht vergleichbar ist, versetzt die Polizeileitstelle bei eingehenden Anrufen, auch dann, wenn sich der Anrufer nicht meldet oder sich nicht mehr verständlich machen kann, ohne weiteres in die Lage, notwendig erscheinende Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Die Hilfeleistung ist nicht von weiteren Erklärungen des Anrufers abhängig. in diesem Zusammenhang kann auch nicht außer Betracht bleiben, dass es sich beim polizeilichen Notruf 110 im täglichen Leben um die wichtigste Einrichtung handelt, über die Hilfsmaßnahmen nicht nur der Polizei, sondern auch anderer Institutionen zu erlangen sind.Das LG hat deshalb die jeweils tatbestandliche Erfüllung des § 145 I Nr. 1, 1. Alt. StGB zu Recht als Rauschtaten im Sinne von § 323 a I StGB gewertet.
Die Entscheidung des LG blieb insofern unbeanstandet durch das OLG.
Selten gelangen Gerichtsentscheidungen zur Thematik „Missbrauch von Notrufen“ bis zur Revision. Viele Verfahren werden bei früh einsetzender Strafverteidigung durch auf Strafrecht spezialisierte Rechtsanwälte bereits im Ermittlungsverfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt.
3. Strafsenat des OLG Bamberg, Az.: 3 Ss 20/11