Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz im Strafbefehlsverfahren zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen á 20,00 € verurteilt.
Hiergegen hat der Angeklagte form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Mit Gerichtsbeschluss hat das Amtsgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO „vorläufig“ eingestellt mit der Begründung, dass die Strafe, zu der die Verfolgung führen könne, neben der Strafe, die der Angeklagte in anderen Verfahren zu erwarten habe, nicht ins Gewicht falle. In einem anderen Verfahren ist er rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen á 15,00 € verurteilt worden. In einem weiteren Verfahren, auf das sich die Einstellung auch bezieht, wurde der Angeklagte vermeintlich freigesprochen, das Verfahren ist allerdings noch anhängig.
Nach Anhörung der Staatsanwaltschaft, die sich gegen eine „endgültige“ Verfahrenseinstellung ausgesprochen hat, da die verhängte Geldstrafe von 150 Tagessätzen keine Grundlage hierfür bilde aber ohne Anhörung des Angeklagten, hat der Vorsitzende ohne weitere Begründung verfügt, dass das Verfahren wieder aufgenommen wird; zugleich hat er einen Termin zur Hauptverhandlung bestimmt.
Die Wiederaufnahme ist dem Angeklagten nicht ausdrücklich bekannt gemacht worden. Gleichwohl ist gegen den Angeklagten das angefochtene Urteil ergangen, mit dem die gegen den Angeklagten verhängte Geldstrafe auf 50 Tagessätzen zu je 15,00 € herabgesetzt worden ist.
Gegen diese Entscheidung legte der Angeklagte erfolgreich Revision ein. Dazu das KG:
1. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 26. Oktober 2007 das Verfahren wirksam gemäß §§ 154 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt im Hinblick darauf, dass die Strafe, zu der die Verfolgung führen kann, neben den Strafen, die der Angeklagte in den Verfahren 261a Ds 38/06 und 282 Ds 162/06 zu erwarten habe, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt. Der gerichtliche Einstellungsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO hat eine beschränkte materielle Rechtskraft (vgl. BGH NJW 1957, 637, 638; Meyer-Goßner, StPO 51. A., § 154 Rdnr. 17; Beulke in Löwe-Rosenberg, StPO 26. A., § 154 Rdnr. 42; Weßlau in Systematischer Kommentar, StPO, § 154 Rdnr. 37) und beendet die gerichtliche Anhängigkeit (vgl. BGH a.a.O; OLG Frankfurt NStZ 1985, 39; OLG Celle NStZ 1985, 218; Meyer-Goßner, a.a.O.). Mit der Einstellung durch Gerichtsbeschluss gemäß § 154 Abs. 2 StPO entsteht ein auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, das nur durch einen förmlichen Wiederaufnahmebeschluss nach § 154 Abs. 5 StPO beseitigt werden kann (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; NStZ 2007, 476; BGH, Beschluss vom 9. November 2004 – 3 StR 382/04; BGH GA 1981, 36; Beulke, a.a.O., Rdnr. 52; Weßlau, a.a.O.; Schoreit in Karlsruher Kommentar, StPO 6. A., § 154 Rdnr. 28).
2. Da die Wiederaufnahme nur zulässig ist, wenn die Grundlage des Einstellungsbeschlusses nachträglich wegfällt (vgl. Beulke, a.a.O., Rdnr. 75 und JR 1986, 50, 51) und das Gesetz die Wiederaufnahme des Verfahrens grundsätzlich nur unter den in § 154 Abs. 4 StPO genannten Voraussetzungen zulässt, wird trotz Vorliegens eines Wiederaufnahmebeschlusses das Verfahrenshindernis nicht beseitigt, wenn die materiellen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme nicht vorliegen (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; Rieß GA 1981, 37;). So ist es hier. Zwar ist anerkannt, dass § 154 Abs. 4 StPO die zur Wiederaufnahme führenden Gründe nicht abschließend enthält (vgl. BGH NStZ 1986, 36 m. Anm. Rieß; Beulke in LR, a.a.O., Rdnr. 73, 75 und JR 1986, 50, 51; Weßlau, a.a.O., Rdnr. 43 f.) und dass sowohl Einstellung als auch Wiederaufnahme jeweils eine Ermessensentscheidung des mit der Sache befassten Gerichts darstellt und sich daher hinsichtlich ihrer konkreten Grundlagen naturgemäß weitgehend einer gerichtlichen Überprüfung entziehen (vgl. OLG Frankfurt NStZ 1985, 39). Auch wenn der Wiederaufnahmebeschluss vom 10. August 2008 keine Begründung enthält, ergibt sich aus dem Verfahrensgang zweifelsfrei, dass das Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens beschlossen hat, weil der Angeklagte in dem Verfahren 261a Ds 284/05, zu dem das Verfahren 261a Ds 38/06 hinzuverbunden worden ist, lediglich zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt und im Verfahren 282 Ds 162/06 – scheinbar – freigesprochen worden ist und sich damit die der Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO zugrunde liegende Straferwartung in den Bezugsverfahren nicht erfüllt hat. Tatsächlich traf diese Annahme des Amtsgerichts aber nicht zu, da das Verfahren 261a Ds 38/06 hinsichtlich des Angeklagten nicht mit einem Freispruch abgeschlossen worden ist, sondern noch immer anhängig ist. Die materielle Voraussetzung für die Wiederaufnahme, nämlich die Widerlegung der Annahme, dass die im hiesigen Verfahren zu erwartende Strafe neben der Strafe, die der Angeklagte u.a. in dem Verfahren 261a Ds 38/06 zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt, liegt, da in dieser Sache noch keine abschließende Entscheidung ergangen ist, somit (noch) nicht vor. Daher konnte der Wiederaufnahmebeschluss das sich aus der gerichtlichen Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ergebende Verfahrenshindernis nicht beseitigen.
Der Enscheidung des Kammergerichts Berlin (KG Berlin) zufolge hätte das durch die Einstellung eingetretene Verfahrenshindernis nur durch förmlichen Wiederaufnahmebeschluss beseitigt werden können. Dafür allerdings hätte eine Anhörung des Angeklagten erfolgen müssen und zudem sei eine Begründung für die Wiederaufnahme erforderlich gewesen. Außerdem hätte dem Angeklagten die Wiederaufnahme ausdrücklich bekannt gemacht werden müssen.
Da dies nicht erfolgt ist, sei die Wiederaufnahme nicht zulässig gewesen.
Daher wurde auf die Revision des Angeklagten das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin aufgehoben und das Verfahren eingestellt.
KG Berlin, Beschluss vom 19.03.2009, Az.: (4) 1 Ss 98/09 (59/09)